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Rolf Sigg – ein Visionär, ein Pionier: Ein Nachruf.

Der Name von Pfarrer Dr. phil. Rolf Sigg steht für Sterbebegleitung in der Schweiz. Aber auch für Palliative Care, gründete er doch das erste Sterbehospiz der Schweiz und die Stiftung palliacura. Am 15. September 2017 verstarb er in seinem 101. Lebensjahr. Ein Nachruf.

Als die EXIT-Gründer, die pensionierte Lehrerin Hedwig Zürcher und der Anwalt Walter Baechi, im Jahr 1982 per Inserat in der Neuen Zürcher Zeitung engagierte Mitglieder für den Aufbau ihrer Sterbehilfeorganisation suchen, fühlt sich der protestantische Pfarrer Rolf Sigg sofort angesprochen, meldet sich und wird zwei Jahre später Geschäftsführer des Vereins. Ein Amt, das er 13 Jahre lang innehatte, bevor er, zusammen mit Prof. Dr. med. Julius Hackethal, eine neue Sterbehilfe-Gesellschaft, EX International, in Bern gründete. Damit eröffnete er auch Hilfesuchenden aus dem Ausland, besonders aus Deutschland, die Möglichkeit einer legalen, ärztlich begleiteten Sterbehilfe, handelte sich damit aber gerade in Deutschland auch etliche Strafverfolgungen und Verurteilungen ein.

Mit Courage und Charakter

Es brauchte in den frühen 1980er-Jahren einen Mann seines Formats, seiner Courage, seiner Intelligenz, seiner Energie und seines starken Charakters, um allen Anfeindungen zu trotzen, um gegen den anfänglich heftigsten Widerstand von Seiten beider Kirchen sowie gewisser Kreise der Gesellschaft und der Politik das Recht jedes urteilsfähigen, mündigen Menschen, insbesondere des sterbewilligen Schwerkranken auf Selbstbestimmung am Lebensende zu verteidigen. Oder, wie der berühmte katholische Schweizer Theologe Hans Küng es formulierte: «Gott, der dem Menschen Freiheit geschenkt und Verantwortung für sein Leben zugemutet hat, hat gerade auch dem sterbenden Menschen die Verantwortung und Gewissensentscheidung für Art und Zeitpunkt seines Todes überlassen. Eine Verantwortung, die weder der Staat noch die Kirche, weder ein Theologe noch ein Arzt dem Menschen abnehmen kann.»

Rolf Sigg war der Erste, der in der Schweiz, gestützt auf § 115 StGB und verteidigt von EXIT-Präsident Rechtsanwalt Walter Baechi, medikamentös unterstützte Freitodhilfe durchführte – für einen medizinischen Laien, gar einen Pfarrer, doch ein recht aussergewöhnliches Unterfangen. Er brach damit ein Tabu von der gleichen Tragweite wie das der Abtreibungen durch «Engelmacher» und öffnete damit der Sterbehilfe in der Schweiz den Weg aus der gefahrenträchtigen Heimlichkeit in eine offene, klar begrenzte, nachvollziehbare und kontrollierbare Praxis. Er umgab sich bald mit einer zunächst kleinen Gruppe geeigneter, ehrenamtlicher Personen, den sogenannten Freitodbegleitern.


Viele beschreibende Prädikate

Verkürzt gesagt trug Rolf Sigg, der Pfarrer und Geschäftsführer von EXIT Deutsche Schweiz, damit wesentlich dazu bei, dass die Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) in ihren medizinisch-ethischen Richtlinien von 2008, nach jahrelangen, erbitterten Auseinandersetzungen, dem Arzt das Recht einräumte, «aufgrund einer persönlichen Gewissensentscheidung … Beihilfe zum Suizid zu leisten» unter Beachtung klarer Voraussetzungen.

Prädikate, die immer wieder genannt werden, um die Wirkung des Menschen wie des Vorstandskollegen Rolf Sigg zu beschreiben, lauten: weitsichtig, mutig, eigensinnig, hartnäckig, unbequem, bis hin zu arrogant. Aber er konnte auch charmant und sensibel sein, und er war sehr grosszügig mittellosen Mitgliedern gegenüber. Eine starke Persönlichkeit mit Ecken und Kanten, aus dem Stoff der Neuerer, durchaus vergleichbar etwa mit dem Migros-Gründer Gottfried Duttweiler.

Brave Pfade verlassen

Auch Rolf Sigg verliess die braven Pfade, duckte sich nicht ängstlich, sondern wandte zum Beispiel neue, aggressive Marketingmethoden an. Er brachte prominente Mitglieder dazu, sich zu exponieren, mit ihrem Konterfei Werbung zu machen für EXIT. CHF 400’000 für Werbung auszugeben war damals tollkühn, aber der Erfolg gab ihm recht: In seiner Amtszeit stiegen die Mitgliederzahlen von 2’500 auf 55’000. Es hat ihn sicher mit grossem Stolz erfüllt, zu erleben, dass EXIT, sein Lebenswerk, heute über 105’000 Mitglieder zählt.

Mit einer weiteren Idee war er wiederum seiner Zeit voraus: Er wollte ein Sterbehospiz eröffnen, damit EXIT-Mitglieder auf Wunsch ihre letzte Lebenszeit in einem würdigen Rahmen beschliessen konnten. Mit Hilfe der Stiftung Schweizerische EXIT-Hospize (heute Stiftung palliacura), die er mit eigenen Mitteln äufnete, und mit Spenden von EXIT-Mitgliedern erwarb er 1990 das Chalet Erika in Burgdorf, ein traumhaft schönes Herrschaftshaus aus dem Jahr 1894, umgeben von einem herrlichen Park, liess es unter Beibehaltung der wertvollen Kachelöfen, der Deckenmalereien, des Speisezimmers mit seiner Arvenholztäfelung und weiteren einzigartigen Dekorationen grosszügig umbauen und gab ihm den Namen «Villa Margherita». Aber die Krankenkassenbeiträge waren viel zu tief, die Beiträge des Kantons Bern blieben völlig aus, die Betriebskosten waren zu hoch, so dass das Defizit die Stiftung bald zur Schliessung zwang.

Seine Frau als treibende Kraft

Vor seinem Engagement für EXIT arbeitete Rolf Sigg 14 Jahre lang als liberaler protestantischer Pfarrer in Schaffhausen, Rüti und Uster. In dieser Zeit gründete er auch die Zeitschrift «Von des Christen Freude und Freiheit», die bald Auflagenzahlen von 35’000 Abonnenten erreichte. Vom Erlös finanzierte er sein Psychologie-Studium, das er mit dem Doktorat abschloss. Erst als die Leserschaft – Sigg war bereits weit über 90 Jahre – auf unter 1’000 sank, gab er die Herausgabe auf Drängen seiner Frau auf.

Und dieser Frau, Lucia Sigg-Triches, sei hier ganz besonders gedacht. Im Alltag wie in allen administrativen Aufgaben, als Pfarrersfrau, als Finanzverwalterin, als graue Eminenz des Geschäftsführers, als Begleiterin bei seiner schwierigen Sterbehelfer-Tätigkeit, hielt sie alles Unangenehme von ihm fern, unterstützte ihn höchst kompetent und energisch bis an sein Lebensende. Ohne Lucia Sigg an seiner Seite hätte Rolf Sigg nicht all das leisten können, was er unternommen hat.

EXIT und ihre Mitglieder sowie die Stiftung palliacura sind beiden zu grösstem Dank verpflichtet. «Die Zeit der Leitwölfe ist vorbei », sagte Mark Mast. EXIT und palliacura hatten das Glück, mit einem der letzten Leitwölfe an ihrer Spitze der Idee der Selbstbestimmung am Lebensende zum Durchbruch verholfen zu haben. Wir trauern um Rolf Sigg, der am 15. September 2017, über 100-jährig, verstorben ist.

ELKE BAEZNER


Bild:
Pfarrer Rolf Sigg an seinem 100. Geburtstag.
Foto: Felix Aeberli