Festrede von Pfarrer Werner Kriesi

Rund um die Palliativpflege – einige Streiflichter
Festvortrag am 20. Januar 2014 von Pfarrer Werner Kriesi, Stiftungsrat

Werner Kriesi


Unvergesslich bleibt mir ein Film, der das Leben in einem Londoner Sterbehospiz in den 1970er-Jahren des letzten Jahrhunderts aufzeigt. Die englische Ärztin Cicely Saunders gründete und leitete dieses Hospiz, in welches ausschliesslich Menschen aufgenommen wurden, die wussten, dass sie unheilbar erkrankt sind. Dieser Film zeigt Menschen, wie sie an Tischen sitzen, miteinander Kaffee trinken, Karten spielen, in Gespräche vertieft, sich mit anderen Kranken und Besuchern unterhalten, Musik hören, – insgesamt ein entspanntes Bild des Friedens, der Ruhe und Geborgenheit. Ärztinnen, ohne blendend weisse Berufskleidung, Geistliche, ohne Talar, keine Symbole der üblichen Hierarchie, wie sie in normalen Spitälern nicht zu übersehen sind. Frau Saunders und ein anglikanischer Geistlicher kommen im Film zu Wort und erzählen, wie rücksichtsvoll und aufmerksam die dem Tode nahen Menschen miteinander umgehen – und wie nahe und vertrauensvoll Betreute und Betreuende einander begegnen.

Alle Kranken wissen, sie werden an ihrer Krankheit sterben. Sie wissen um die begrenzte Lebenszeit, die ihnen bleibt, und diese Klarheit erlöst sie vom grausamen Wechselbad zwischen Hoffnung und Verzweiflung, das diejenigen unheilbar Kranken quält, die nicht Bescheid wissen, oft auch nicht Bescheid wissen wollen, und sich an jeden Strohhalm klammern, der sich ihnen anbietet. Die Leitenden des Hauses, gemeinsam mit Helfern und Helferinnen, versehen alle Rollen, die nach heutigem Verständnis zur Palliativpflege gehören: Ärztin, Psychologe, Seelsorgerin, Theologe, Psychotherapeut und Sozialarbeiterin. So erleben wir in diesem Film Palliativpflege als vorbildliches, berufsübergreifendes Teamwork, wie es in unserer Arbeitswelt sonst kaum anzutreffen ist.

Ärzte als Begleiter und Fürsorger

Seit der Gründung dieses englischen Sterbe-Hospizes sind gegen 50 Jahre vergangen. Während dieser Zeit entwickelte sich überall in der westlichen Welt die Palliativpflege als eigenständiger Zweig der modernen Medizin. Ein uns wohl allen bekannter Palliativmediziner, Michael de Ridder, schreibt in seinem lesenswerten Buch «Wie wollen wir sterben»: «Statt Todkranke um jeden Preis am Leben zu erhalten, müssen Mediziner lernen, in aussichtslosen Situationen ein friedliches Sterben zu ermöglichen. Gerade hier sind Ärzte gefragt als Begleiter und Fürsorger.» (Klappentext) Und an anderer Stelle: «Der ärztliche Heilungsauftrag hat ein Ende gefunden. Der ärztliche Behandlungsauftrag besteht aber weiter. Jetzt geht es nicht mehr um die Heilung der Krankheit, sondern um die Linderung der Beschwerden, einschliesslich der psychischen, spirituellen und sozialen Befindlichkeit der Kranken.» (ebd. S. 215)

Als ich dieses Referat vorzubereiten begann, stiess ich auf einen Text aus dem 17. Jahrhundert – und ich traute meinen Augen kaum. Der englische Philosoph und Politiker Francis Bacon, gestorben 1626, hinterliess uns in einer seiner Schriften folgende Aussage: «Es gehört zu den genuinen Aufgaben des Arztes, nicht nur die Schmerzen des Kranken zwecks Genesung zu lindern, sondern ebenso für ein sanftes und angenehmes Dahinscheiden aus dem Leben zu sorgen, wenn er alle Hoffnung auf Genesung aufgegeben hat.» Bacon verwendet erstaunlicherweise den Begriff Euthanasie als medizinischen Terminus, der jedoch nicht das Sterben bezeichnet, sondern die Linderung der Schmerzen. Zwischen Michael de Ridder und Francis Bacon kann ich keinen grundsätzlichen Unterschied erkennen, obwohl rund 400 Jahre diese beiden Männer trennen!

Nichts Neues unter der Sonne

Gibt es also doch nichts Neues unter der Sonne, wie ein spätjüdischer Prediger etwa 300 Jahre vor Christi Geburt verkündet hatte. (Kohelet 1. 8-11)

«Alles verändert sich so schnell, dass man mit dem Sehen und Hören gar nicht nachkommen kann; und doch bleibt es dabei: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Was gewesen ist, das wird wieder sein; was getan wurde, das wird wieder getan. Man weiss nur nichts mehr von dem, was die Alten taten. Und was wir heute tun oder unsere Kinder morgen, wird man auch bald vergessen.»

Und doch gibt es Neues, und zwar in einem Ausmass, wie vielleicht kaum je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die atemberaubende Entwicklung in der Medizin, vor allem nach dem zweiten Weltkrieg, in so kurzer Zeit, dass wir mit «dem Sehen und Hören gar nicht nachkommen», wie der Prediger damals schon empfunden hat.

Ein heute führender Palliativmediziner, Gian Domenico Borasio, weist in seinem bekannten Buch «Über das Sterben» auf die schwierige Begrenzung der medizinischen Behandlung von kranken Menschen hin, die nicht mehr heilbar sind. Für Borasio steht fest, dass in der Ärzteausbildung noch viel zu tun ist, bis diese Menschen auf die bestmögliche Schmerzbehandlung vertrauen können. Die medizinischen Abgrenzungsprobleme verbinden sich mit weltanschaulichen und anthropologischen Grundfragen, und deswegen wird die Diskussion nicht nur medizinisch sachlich, sondern kontrovers und leidenschaftlich geführt in unserer Gesellschaft.

Ob es um den Einsatz von Morphinpräparaten geht, die vielleicht lebensverkürzend wirken, oder um das wann und ob der künstlichen Ernährung oder die palliativ-terminale Sedierung, alle diese modernen Errungenschaften stellen uns vor ethisch-moralische Probleme, die früher unbekannt waren.

Wenn es letztlich darum geht, wie viel die Lebensverlängerung um Wochen oder einige Monaten kosten darf, werden sich die Geister scheiden. Vor allem deshalb, weil die Grenze zwischen Lebens- und Sterbeverlängerung von der Sichtweise abhängt und von niemandem klar bestimmt werden kann. In den armen Ländern stellt sich diese Frage nicht: Das Geld ist nicht da. In den reichen Ländern ist noch Geld vorhanden. Aber bei einer weiteren Entwicklung der Medizin wird sich früher oder später die Frage stellen, ob wir für eine Lebens- oder Sterbeverlängerung von einigen Wochen mehr als 100`000 Franken bezahlen können.

Die Herausforderung der Palliativmedizin betrifft nicht nur die Ärzteschaft.

Zur Palliativpflege von schwer kranken Menschen gehört die psychische, die spirituelle und die soziale Befindlichkeit. Hier sind die Ärzte auch gefragt. Michael de Ridder hofft, dass die palliative Aufgabe den Ärzten zu einem ganz neuen Berufsverständnis verhelfen könnte. Aber die Ärzte allein können die Aufgabe nicht bewältigen. Ich habe bereits oben auf die berufsübergreifende Zusammenarbeit hingewiesen. Psychologen, Psychotherapeutinnen, Theologen, Sozialarbeiterinnen sind in dieser Tätigkeit gefordert und eingeladen zu einer umfassenden Zusammenarbeit. Wenn es ums Sterben geht, ist es wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die Spiritualität einen entscheidenden Rang einnimmt. Wilhelm von Humboldt: «Es ist unglaublich, wie viel Kraft die Seele dem Körper zu verleihen vermag.» In früheren Zeiten leisteten die Kirchen innerhalb der allgemein gelebten Glaubenshaltung eine vorbildliche Tätigkeit, die wir nicht unterschätzen dürfen.

Denken wir nur an das Ritual der «Letzten Ölung», heute als Krankensalbung bezeichnet. Zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte der Priester gerufen werden. Er ist der Mann, dem überirdische, numinose Macht – wie in anderen Kulturen dem Schamanen – zugesprochen worden ist: Im Verständnis der katholischen Kirche – bis in die neuere Zeit – verbindet der Priester Menschen mit Gott; er beschwichtigt den göttlichen Zorn; er vermittelt die Gewissheit der Sündenvergebung; er beruhigt im Sterbezimmer durch seine priesterliche Ausstrahlung die Sterbenden und die weinenden Angehörigen. Er träufelt den Kranken das geweihte Öl auf Stirne und Brust, nimmt ihnen die Beichte ab und spricht das tröstliche «absolvo te». Den Sterbenden wird die Oblade überreicht, als Zeichen der göttlichen Gegenwart. Sie drücken das Kruzifix an die Brust und küssen es, bevor sie es dem Priester zurückgeben. Der Weihrauch erfüllt den ganzen Raum und verbreitet eine Stimmung der Getrostheit. Die Gebete des Priesters werden responsorisch, im Sprechchor, von den Angehörigen nachgesprochen.

Vielleicht können wir Heutigen nicht mehr nachvollziehen, wie diese Rituale eine emotional beruhigende Atmosphäre bewirkten und damit Angst und Verzweiflung aufzulösen vermochten. Im priesterlich gespendeten Sterberitual finden wir die psychischen, die spirituellen und die sozialen Bedürfnisse erfüllt, so, wie die moderne Palliativpflege sich dies zum Ziel gesetzt hat.


Sterben und Tod als Dimensionen unserer Menschseins

Nichts Neues unter der Sonne? Oder doch? Ja – und nein! Viele Ältere unter uns sind Zeugen, in welcher Geschwindigkeit in den vergangenen Jahrzehnten die westliche Gesellschaft sich vom kirchlichen Leben losgelöst hat. Alle mit der Kirche verbundenen Gewissheiten über Leben und Tod, über Gott und ewiges Leben, über Himmel und Hölle sind am Verblassen. Der Teufel ist zur Witzfigur mutiert und die Engel hängen putzig am Weihnachtsbaum. Kopernikus und andere gescheite Denker haben uns das Himmelsdach eingeschlagen und seither wissen wir um die unfassbare Ausdehnung des kosmischen Raumes. Die räumliche Vorstellung einer jenseitigen Wirklichkeit, die über tausende von Jahren den Menschen, nebst allem Schrecken, ein Gefühl und eine Gewissheit einer überirdischen Geborgenheit geschenkt hatte, findet in unserem Intellekt keinen Raum mehr. Wir befinden uns in einem für den Einzelnen unüberschaubaren und chaotisch wirkenden Prozess eines geistigen Umbruchs von epochalem Ausmass. Spätere Historiker werden wahrscheinlich in analysierender Rückschau die heutige Zeit einmal besser verstehen können als wir selber. Ich glaube, was jetzt geschieht, wird einmal als notwendiger Prozess der Emanzipation verstanden werden. Die Menschen mit dem heutigen Bildungsstand sind nicht mehr bereit, sich übergeordneten und traditionellen Autoritäten zu unterziehen, sie suchen ihre eigenen Antworten – auch im Religiösen –, und das bedeutet einen vielleicht nie dagewesenen Pluralismus, wie Menschen Leben und Tod verstehen.

In diesem geistesgeschichtlichen Kontext arbeiten wir im weiten Feld der Palliativpflege. Sterben und Tod berühren Dimensionen unseres Menschseins, auf welche wir letztlich keine wissenschaftlichen Antworten finden. Und die traditionellen religiösen Antworten haben nicht für alle, aber für viele ihre Überzeugungskraft verloren. Ein deutscher Literaturkritiker, Hermann Kurzke, beschrieb kürzlich das Leben von Georg Büchner zu dessen 200. Todestag. Kurzke schrieb: «Büchner war zu intelligent, um religiös zu sein, und gleichzeitig war er zu sehnsüchtig, um es nicht zu sein.» Trifft dieser Satz in dieser lapidaren Kürze nicht die geistige Befindlichkeit unserer Zeit? Wir sind auf der Suche nach Sinn und Halt, nach einer tieferen, eben einer spirituellen Kraft, die uns trägt und über die Brücke begleitet, die vom irdischen Leben in ein anderes hinüberführt – oder vielleicht ins kalte und graue Nichts! Kurz: Wir sind auf der Suche nach einer metaphysisch verankerten Geborgenheit, die uns säkularen Menschen so nicht mehr gegeben ist.

Ein Musterfall der Palliativpflege

Lassen Sie mich ausgehend von einer persönlichen Erfahrung in der Seelsorge erläutern, wie ich dieses Urteil über Georg Büchner verstehe. Ich besuchte einen 61-jährigen Mann, der an einem metastasierenden Prostatakarzinom erkrankt war und nach ärztlichem Befund noch einige Monate zu leben hatte. Seine Ärztinnen fanden zur rechten Zeit die schonenden und zugleich ehrlichen Worte, den Kranken mit der harten Wahrheit vertraut zu machen. Er war verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter, beruflich erfolgreich, Direktor eines chemischen Betriebes, im Militär im Range eines Obersten. Ich kannte die Familie seit einiger Zeit. Der Mann war medizinisch gut betreut. Die Ärzte taten alles für sein körperliches Wohlbefinden, verzichteten auf alle unnötigen Therapien und sorgten für eine optimale Schmerzbehandlung. Ein Musterfall von Palliativpflege, was die somatische Seite anbetraf.

In seiner Psyche sah es anders aus. Nachdem ich mich an sein Bett gesetzt hatte, schaute er mich lange an und schwieg, versuchte sich etwas aufzusetzen, wandte seinen Blick wieder ab und schwieg weiter. Dann schüttelte er seinen Kopf: «Nein», sagte er energisch, «nein, das kann doch nicht alles gewesen sein! Was habe ich mir von meinem Leben alles erträumt, was habe ich mir alles vorgenommen und geplant – und was ist herausgekommen? Jetzt soll es zu Ende sein? Das alles ist zu wenig! Und dann noch etwas: Ich wurde von meinem Vater beinhart erzogen und ich habe in derselben Härte meine Kinder erzogen. Meinen Sohn habe ich erdrückt, er leidet an Depressionen und ist seit einiger Zeit in psychiatrischer Behandlung. Meine Tochter hat sich vor einigen Jahren von mir distanziert. Das alles lastet auf mir. Manchmal, wenn ich irgendwo unterwegs war, suchte ich eine Kirche auf, setzte mich hinein und wartete, bis ich ganz ruhig und gesammelt war. Die Stille in diesem offenen und doch vom Lärm der Strasse geschützten Raum tat mir jedes Mal gut und ich spürte dann, wie eine Kraft, die unerklärlich, aber körperlich spürbar war, wie eine Wärme in mich hineinfloss. In solchen Augenblicken versuchte ich mich mit meinen Kindern in einer Art Gebet zu verbinden, was mich immer beruhigt hat. Ich bin zwar nicht gläubig, aber irgendetwas gibt es doch, das spüre ich. Ich komme mir wie gespalten vor, gespalten zwischen Verstand und Gefühl. Ich wurde im üblichen Sinne religiös erzogen, kann so, wie ich es damals hörte, nichts mehr damit anfangen. Darum gehe ich auch nicht mehr in die sonntäglichen Gottesdienste. Ich hoffe, ich beleidige Sie nicht, Sie sind ja Pfarrer. Ich bin froh, haben Sie mir zugehört, das tut mir gut, und ich erwarte auch keine Trostworte von ihnen – im Gegenteil, ich würde auch keine ertragen, schon gar keine frommen.»

Schilderte dieser Mann nicht ungefähr das, was wir eben über Georg Büchner gehört haben: Er war zu intelligent, um religiös zu sein und gleichzeitig zu sehnsüchtig, nach einer innersten Gewissheit, dass wir im Leben durch eine unsichtbare Kraft gestärkt und geführt werden, eine Kraft, die uns auch im Sterben nicht verlässt. Ist das gemeint mit Spiritualität? Wir sehen diese Kraft nicht, können deren Geheimnis verstandesmässig nicht begründen, spüren jedoch, wenn sie uns erfasst und erfüllt. Solche Erfahrungen sind wohl der Grund, warum im Laufe der Menschheitsgeschichte die Glaubensbilder von der Existenz einer göttlichen Wirklichkeit entstanden sind. Ich habe diesen 61-jährigen Mann während knapp zwei Monaten jede Woche einmal besucht. Er starb mitten in der Nacht mit dem Beistand seiner Frau und von Sohn und Tochter, wie ich mir sagen liess, gefasst und ruhig und versöhnt mit Frau und Kindern.

Können an der Grenze des Nichtkönnens

Wenn ich mir heute überlege, was wir mit Gesprächen bewirken können, kommt mir ein Ausspruch des kürzlich verstorbenen führenden Psychotherapeuten Gaetano Benedetti in den Sinn, bei dem ich in den 1960er-Jahren Vorlesungen gehört habe. Dieser bezeichnet Psychotherapie als «Können an der Grenze des Nichtkönnens, ein Verstehen an der Grenze des Unverständlichen, ein sympathetisches Mitgehen an der Grenze der undurchdringlichen Geschiedenheit». Ich glaube, dasselbe gilt auch für jegliche spirituelle Begleitung von sterbenden Menschen. Unter Spiritualität verstehe ich alles, was Menschen stärkt und beruhigt. Wir tun diese Arbeit besser, vermute ich, wenn wir uns dabei nicht in einer messianischen oder sonstwie überlegenen Helferrolle fühlen, eine Haltung, die wiederum trennend wirken würde, sondern wenn wir darauf vertrauen, dass in der liebenden, einfühlenden und verstehenden Begegnung von Mensch zu Mensch die geistige und seelische Energie freigesetzt wird, die wir Spiritualität nennen.

Bei der geschilderten priesterlichen Begegnung stand diese Spiritualität genauso im Vordergrund wie in der eher säkularen Atmosphäre im Hospiz von Cicely Saunders. Die kräftespendende spirituelle Energie steht allen Menschen zur Verfügung, gläubig und ungläubig, ob diese an ein Weiterleben nach dem Tode glauben oder nicht. Die göttliche Lebensenergie, wenn ich die uns verborgene Kraftquelle so nennen darf, begleitet die Menschheit seit Anbeginn des menschlichen Lebens – und schon vorher. Papst Franziskus soll gesagt haben: «Es gibt keinen katholischen Gott.» Und Hugo Stamm ging noch weiter: «Es gibt keinen christlichen Gott.» Ich halte dies für entscheidende Einsichten, zumal gerade mit dem bedrohlichen Gottesverständnis, das in meiner Jugendzeit noch an uns herangetragen worden ist, eine schuld- und schamgeschwängerte Grundstimmung verbunden war, die bei der heute älteren Generation viel Lebensfreude verhindert hat – bis zum heutigen Tag. Viele Menschen, die wir palliativ begleiten, gehören zu dieser Generation, die eine nicht geringe Belastung einer negativ gefärbten christlichen Sozialisierung mit sich trägt.

Einige Tage nach dem Tode des 61-jährigen Mannes träumte ich von ihm. Wir wanderten gemeinsam durch eine sehr schöne Gegend, ohne miteinander zu sprechen. Ich empfand ihm gegenüber eine innere Verbundenheit, die keine Worte brauchte, es war dieselbe Verbundenheit, wie sie während unseren Gesprächen am Spitalbett nach einiger Zeit gewachsen war. Als wir so unterwegs waren, sah ich, wie der Weg aufhörte und wie wir auf einmal vor einem schattenhaften Etwas standen. Mir schien im Traum, wir würden ganz nahe am Eingang eines Eisenbahntunnels stehen. Die Helligkeit, in der wir uns noch befanden, ging über in Dunkelheit, in der nichts mehr zu erkennen war. Mein Begleiter blieb stehen, wandte sich zu mir und sagte: «Von hier aus gehe ich allein und du bleibst hier, da kannst du jetzt nicht mitkommen.» Sprachs, ging einige Schritte weiter, drehte sich noch einmal zu mir um, machte mit der Hand eine ungelenke Bewegung und entschwand meinen Augen in die Dunkelheit.

Wir erinnern uns, Benedetti sprach nicht nur vom Können an der Grenze des Nichtkönnens. Er bezeichnete die Begleitung von Menschen in Grenzsituationen als «ein Verstehen an der Grenze des Unverständlichen, und ein sympathetisches Mitgehen an der Grenze der undurchdringlichen Geschiedenheit». Dieser Traum liess mich diese Wahrheit deutlich bewusst werden. Auch bei bester palliativer Betreuung gehen die Menschen den letzten Schritt ganz alleine. Dieses Bewusstsein wird uns helfen, unsere Helferinnen- und Helferrolle im angemessenen Lichte zu sehen, mit allen Möglichkeiten, aber auch mit den Grenzen, die uns gesetzt sind. Wir brauchen beides: Den Glauben, dass wir Menschen helfen können, ihre Angst zu überwinden, und zugleich die Einsicht in unsere Grenzen, damit wir die Bescheidenheit leben, die uns den inneren Zugang zu den Kranken ermöglicht. Gian Domenico Borasio, der uns als führender Palliativmediziner bekannt ist, meint, mit dieser Einstellung der Bescheidenheit entgingen wir der Gefahr der «ethischen Überhöhung», denn auch die Palliativpflege verdiene trotz allen Verdiensten keinen Heiligenschein.

Kühle Toleranz reicht nicht aus

In seinem Bestseller «Über das Sterben» vertritt Borasio die Auffassung: Wer Menschen am Lebensende spirituelle Kraft vermitteln wolle, müsse selber über eine spirituelle Verankerung verfügen. Denn Palliative Care sei nicht nur ein Programm, sondern eine innere Haltung der Helfenden. Die bekannte Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross würde die Einsicht von Borasio wohl bestätigen. Kübler-Ross versteht den Tod als «Schlüssel zum Lebenstor». Angesichts von Krankheit, Leid und Sterben sei es von «wesentlicher Bedeutung, sich des Lichtes, der Kraft und der Stärke in uns selber bewusst zu werden und zu lernen, diese inneren Kraftquellen im Dienst an der eigenen Reife und der Reife anderer zu benutzen». Seele und Geist bedeuten in uns selber ein Kraftzentrum, sofern dieses nicht verschüttet und unentwickelt ist wegen Enttäuschungen, Bitterkeit, Neid, Hass und unüberwundener Angst. Durch die lebenslange Überwindung dieser negativen Kräfte lernen wir zu leben – um schliesslich einmal im Frieden mit uns selber und den nächsten Angehörigen zu sterben. Im Frieden und ohne Angst zu sterben ist nach meiner Erfahrung nicht davon abhängig, ob wir an ein Leben nach dem Tode glauben oder nicht. Ich habe Sterbende erlebt, die freimütig bekannten: Ich werde wieder das sein, was ich vor meiner Geburt gewesen bin, ohne Bewusstsein meiner selbst. Mein vergangenes Leben, das ist es gewesen, mehr gibt es nicht. Damit haben wir uns zu bescheiden.

Menschen, die so denken, sterben häufig nicht schlechter, als solche, die an ein Leben nach dem Tode glauben. Der kürzlich verstorbene Autor Wolfgang Herrndorf glaubte nicht an ein «Jenseits». Für ihn ist nach dem Tode nichts und niemand. «Der Tod beendet und besiegelt die unbegreifliche Nichtigkeit menschlicher Existenz.»

Nach Monica Renz, verantwortlich für die Palliativpflege im Kantonsspital St. Gallen, sterben wir «in ein Du hinein». Als Elisabeth Kübler-Ross gefragt wurde, ob sie an ein Leben nach dem Tode glaube, wies sie diese Frage entrüstet zurück: «Das muss ich nicht glauben, das weiss ich!» Eben erschien ein Bestseller einer amerikanischen Chirurgin. Auf Grund eines Nahtoderlebnisses ist die Autorin Mary C. Neal unbeirrbar davon überzeugt, dass wir nach dem Tode einem neuen Leben entgegengehen. Goethe soll einmal gesagt haben: «Der Geschmack des Todes ist auf meiner Zunge. Ich fühle etwas, das nicht von dieser Welt ist.» Es ist unglaublich, welcher Vielfalt von Einsichten und Überzeugungen wir bei der Arbeit in der Palliativpflege begegnen. Es ist sicherlich bedeutsam, dass alle Menschen, die im Bereich der Palliative Care tätig sind, wissen, wo sie selber stehen. Ebenso wichtig ist nach meiner Überzeugung aber, dass sie jede andere Einstellung zum Sterben, zum Tod und zum Danach im vollen Sinne achten. Im Kontakt mit Sterbenden reicht kühle Toleranz nicht aus. Jede Einstellung, die uns begegnet, verdient unseren Respekt.