30-Jahr-Jubiläum palliacura am 23. Januar 2019 im Volkshaus Zürich
Festvortrag von Christian Walther
Einige Passagen, die beim Vortrag aus Zeitgründen weggelassen wurden, sind durch Kursiv-Satz gekennzeichnet.
Liebe Gastgeber, liebe Gäste,
es ehrt mich, dass ich Ihnen zu diesem erfreulichen Anlass einen kleinen Vortrag halten darf, der sich vor allem mit dem sogenannten Sterbefasten beschäftigt.
Eine fröhliche Stimmung und das Thema Sterben lässt sich allerdings nicht so ohne weiteres in Einklang bringen. Doch es stehen heute ja im Vordergrund die Leistungen von Menschen, die im Bereich Pflege und Sterbehilfe Besonderes geleistet haben, und das ist allemal ein Anlass zur Freude.
Da wir aber doch immer wieder, zumindest ganz fern am Horizont, das Thema Tod auftauchen sehen und ja wir auch selber – manche eher, manche noch lange nicht – irgendwann «an der Reihe sein werden», möchte ich zunächst ganz kurz einige Sichtweisen auf das Sterben nebeneinander stellen, und zwar anhand von drei kurzen Gedichten.
Sterben könnte im Prinzip – wenn man nicht von schwerer Krankheit betroffen ist – ganz gemütlich sein, wie es hier anklingt:
Ich legte die Hand auf das Gras,
schloss die Augen
und starb.
Der Mond schien, die Sterne leuchteten.
So billig kommst du nicht davon,
flüsterte jemand hinter meinem Rücken.
Dieses humorvolle Gedicht stammt von Marusa Krese.
Man kann es aber auch so sehen:
Mit leeren Händen kam ich in die Welt.
Barfuss verlasse ich sie.
Mein Kommen, mein Gehen -
zwei einfache Ereignisse,
ineinander verwoben.
Diese Zeilen stammen von dem japanischen Zen-Meister Ichikyo.
Manche hegen frohe Erwartungen, dass nach dem Tode noch etwas Schönes auf sie wartet; andere denken aber beim Tod nicht so sehr an sich, wie etwa Friedrich von Logau, der im 17. Jahrhundert lebte:
Ich fürchte nicht den Tod, der mich zu nehmen kümmt;
Ich fürchte mehr den Tod, der mir die Meinen nimmt.
Genug Poetisches – wenden wir uns nun der Perspektive zu, dass einem am Lebensende medizinisch und vielleicht auch anderweitig keine angenehme Situation vergönnt sein wird.
Man kann sein Schicksal sozusagen in Gottes Hand, genauer: in Arztes Hand legen und alles auf sich zukommen lassen – eine Haltung, die neuerdings fast weinerlich von einigen relativ prominenten Katholiken im deutschsprachigen Raum vertreten wird. Patientenverfügungen, Advance Care Planning und neuerdings gar noch die Möglichkeit, dass es zum Sterbefasten kommen könnte – muss das denn alles sein? Warum nicht einfach in Ruhe sterben – statt alles zu planen oder zu verwalten, nun auch den eigenen Tod?
Das sind natürlich rhetorische Fragen. Sicherlich ist alles ziemlich kompliziert geworden, was man im Blick haben sollte, wenn man sich die möglichen Probleme des Lebensendes vorstellt. Aber wenn Leute einige Mühe auf sich zu nehmen, vorausschauend ihre Verhältnisse zu ordnen – dann geschieht das doch, um zumindest in relativer Ruhe sterben zu können.
Hier kurz etwas zum Begriff Sterbefasten: Meines Wissens war der verstorbene Schweizer Sterbehelfer Peter Baumann einer der ersten, der das Wort gebrauchte. Ich sage das auch, um sein Andenken zu ehren – von ihm ist ein sehr lesenswertes Buch über Sterbehilfe posthum veröffentlicht worden. Letztlich ist das Wort Sterbefasten einfach weniger sperrig als die von Ärzten bevorzugte Bezeichnung «Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit» und auch einprägsamer als die Abkürzung FVNF. Aber es gibt Leute, die sich ganz fürchterlich über das Wort Sterbefasten aufregen, weil Fasten doch nur mit Leben zu tun habe. Am liebsten würden sie jedem verbieten, den Begriff zu verwenden – nun ja, ein wenig weltfremd!
Wenn man es nicht verdienstvoll oder schlicht unangenehm findet, dass das Lebensende mit Qualen verbunden ist und diese eben auf ein Minimum reduziert wissen will, dann richtet sich der Blick heute auf zwei Helfer, die man als Geschwister und nicht etwa als Feinde sehen darf: Zum einen die Palliative Care, sei es im Rahmen eines Hospizes oder einer Klinik oder sogar zuhause; und zum anderen die Möglichkeit, sein Leben vorzeitig zu beenden, wenn man eines Tages sagt: Es ist genug!
Genug kann bedeuten: «leidenssatt» oder aber auch «lebenssatt». Auf eine dritte Perspektive, nämlich die Erwartung, dass man in eine Demenz fallen könnte und darauf lieber verzichten möchte, kann ich wegen der Kürze der Zeit nicht eingehen, obwohl dies eine sehr wichtige Angelegenheit ist.
Hier in der Schweiz bestehen für eine Selbsttötung komfortable Möglichkeiten, die sich in anderen Ländern viele, mich eingeschlossen, sich sehnlichst wünschen. Leider sind sie uns in Deutschland dank einer aufklärungsfeindlichen Gesinnung auf unabsehbare Zeit verbaut worden, nämlich durch eine Änderung im Strafgesetz. Auf der anderen Seite sehen wir in den Niederlanden eine Regelung, die nun möglicherweise an Grenzen stösst, auch deshalb, weil hier Ärzte auch die Tötung auf Verlangen praktizieren dürfen.
Es geht in den Niederlanden – wie ja auch in der Schweiz – darum, dass man das beabsichtigte vorzeitige Sterben dann fördern darf, wenn der Sterbewillige ein unerträgliches Leiden vorweisen kann. Ich habe das das mal ein wenig ironisch gesagt, denn dass dies ein weiches Kriterium ist, darüber sind sich inzwischen alle klar, auch in der Schweiz, wo die SAMW sich nun dieser Begrifflichkeit in der Neufassung der SAMW-Richtlinien zu Sterben und Tod bedient. Aber natürlich begrüsse ich es keineswegs, dass nun die organisierte Ärzteschaft, also die FMH, diese neuen Richtlinien abgelehnt hat!
Es fragt sich eben nur, welche Kriterien besser sein könnten. Wenn wir uns bessere wünschen, dann müssen sie eben ausgearbeitet werden. Ich habe mich dazu kürzlich in der wissenschaftlich-medizinischen Literatur etwas umgesehen und festgestellt, dass es bisher offenbar dazu keinen philosophisch-ethischen Vorschlag gibt. So gesehen sind sicher auch die Schweizer Sterbehilfegesellschaften gefordert – also zum Beispiel EXIT –, solche Überlegungen anzustellen, da man kaum durch eine juristische Regelung festlegen kann, wer konkret das Sterbemittel NaP erhalten soll und wer nicht.
Leidensmüden Menschen werden Organisationen wie EXIT die Suizidhilfe nicht verweigern. Interessanterweise gibt es aber nicht ganz selten in der Schweiz wie beispielsweise auch im US-Staat Oregon trotz des Angebotes einer legalen Suizidbeihilfe Menschen, die das Sterbefasten vorziehen. Das kann zum Beispiel dann sein, wenn der Betreffende in dem krankheits-ähnlichen Ablauf des Sterbefastens etwas Natürliches im positiven Sinn sieht. Manche sprechen in diesem Kontext von «Sterbekultur». Dennoch kann auch dann der Weg beschwerlich werden – man kann es nie vorher wissen. Um eine Vorstellung zu bekommen, wie unterschiedlich die Verläufe sein können, möchte ich Sie auf die Webseite sterbefasten.org hinweisen, wo wir schon 25 Fallbeispiele vorstellen. Hier möchte ich sowohl palliacura, die diese Webseite trägt und finanziert, vielmals danken, ebenso EXIT, die das mitträgt, aber nicht zuletzt Peter Kaufmann, mit dem mich seit etlichen Jahren die Zusammenarbeit für diese Webseite eng verbindet.
Die positive Haltung von EXIT – aber auch DIGNITAS – zum Sterbefasten ist keineswegs selbstverständlich: Sowohl in der internationalen Right-to-die-Bewegung wie auch zum Beispiel bei der Organisation «Sterbehilfe Deutschland» ist man auf das Sterbefasten ausgesprochen schlecht zu sprechen, weil man es als eine mindere Form der Selbsttötung, als einen faulen Kompromiss im Kampf um die Beseitigung antiquierter, vor allem den Kirchen zu verdankender, rechtlicher Hindernisse betrachtet. Das ist zwar letztlich borniert, aber auch ich vertrete die Ansicht: Nur wer für sich das Sterbefasten als gute Möglichkeit bewertet, soll es machen; hingegen soll niemand gezwungen sein, darauf zurückzugreifen, weil ihm seine Situation oder der gesetzliche Rahmen kaum eine Alternative lässt, wenn man einmal von heiklen, unsicheren oder inhumanen Möglichkeiten des Suizids absieht, ganz zu schweigen von den schrecklichen Methoden, die bei den schlimmen, also nicht den wohl erwogenen, sondern oft sehr spontanen Suiziden benützt werden.
Wenn Leute das Sterbefasten einem herkömmlichen Suizid vorziehen, kann das aber auch daran liegen, dass sie – aber auch ihre engsten Angehörigen – einen Suizid moralisch ablehnen und zugleich die Ansicht vertreten, das Sterbefasten sei gar kein Suizid. Aber man muss schon mal fragen, wieso dies denn moralisch besser sein soll als ein vorzeitiges Sterben durch einen herkömmlichen Suizid. Jedenfalls könnte man sagen, dass das Sterbefasten irgendwo zwischen Suizid – also durch Medikamente – und einem natürlichen Tod steht. Eine klare Einordnung des Sterbefastens bei Suizid bereitet sicherlich vielen im Bereich der Pflege und besonders in den Hospizen Probleme. Denn bislang gilt ja meist – noch – die Parole: Mit Suiziden wollen wir nichts zu tun haben. Es gibt dazu keine Antwort, die alle überzeugen könnte, und ich selbst stehe auf dem Standpunkt, dass das jeder für sich irgendwie entscheiden soll – wobei ich selber das Sterbefasten quasi als einen natürlichen Suizid bewerte.
Die Entscheidung zum Sterbefasten sollte man durchaus als suizidal bewerten. Allerdings meine ich, dass für manche schwer Kranke das Verzichten auf Nahrung und Flüssigkeit schon fast eine natürliche Regung sein kann. Vor allem soll «natürlich» zum Ausdruck bringen, dass eben keine Medikamente oder physikalischen Methoden zum Einsatz kommen. Oft hilft man sich im klinischen wie im pflegerischen Bereich pragmatisch mit der Formel: Beim Sterbefasten handelt es sich um ein Beschleunigen des Sterbens, was zumindest gut vertretbar ist, wenn der Sterbewillige an einer schweren Erkrankung leidet, die in nicht allzu ferner Zukunft zum Tode führen wird. Ich selber mag dazu keine ganz grundsätzliche Position beziehen, sondern ich plädiere für einen toleranten Meinungspluralismus bei dieser Frage, vor allem in der Hospizbewegung. Aber es ist inzwischen leider dahin gekommen, dass in einer deutschen Pflege-Zeitschrift offen verlangt wird, Leute aus Hospizen rauszuwerfen, wenn sie dort das Sterbefasten beginnen wollen! Auf der anderen Seite ist es doch interessant, dass von Dachverbänden für Hospize weder im deutschsprachigen Raum noch zum Beispiel in den USA bislang eine offizielle Stellungnahme veröffentlich worden ist – man tut sich offenbar sehr, sehr schwer mit diesem Thema!
Eine Arbeitsgruppe von Prof. André Fringer in Zürich erforscht systematisch die Einstellungen von Leuten in Pflegeheimen aber auch von Angehörigen, die Menschen beim Sterbefasten unterstützen. Zwar kann es anfangs – wenn der Entschluss mitgeteilt wird – zu den erwähnten moralischen Problemen kommen, aber auch zum Gefühl, vom Sterbewilligen zurückgewiesen zu werden, weil er einen eigentlich noch nicht verlassen sollte. Doch scheint dann am Ende fast immer ein pragmatischer Konsens zustande zu kommen, vor allem weil die Hilfe, die der Sterbewillige in Anspruch nimmt, sich in nichts von der Hilfe bei anderen Sterbenden unterscheidet. Man lässt irgendwann den suizidalen Aspekt der Entscheidung auf sich beruhen und entwickelt ein hohes Mass an Solidarität mit dem Sterbewilligen. Man kann laut Fringer sagen, dass die Angehörigen dann oft zu Anwälten des Sterbewunsches werden.
Damit wird meines Erachtens auch deutlich, dass eine palliative Unterstützung beim Sterbefasten zu den Aufgaben der Medizin gehört. So sieht es auch die SAMW, die – vielleicht auch dank zahlreicher Zuschriften von mir – in ihren neuen Richtlinien zu Sterben und Tod das Thema Sterbefasten erstmals einbezogen hat. Die Aussagen sind eher zurückhaltend, und es wird auch klar angesprochen, dass die Absicht eines Sterbefastens bei Leuten, deren Sterbeprozess noch nicht absehbar ist, Ärzten wegen ihrer Weltanschauung Probleme bereiten kann. Allerdings besteht immer die ärztliche Pflicht, bei auftretenden Komplikationen während des Sterbefastens Hilfe zu leisten. Andererseits soll sich auch nach meiner persönlichen Meinung kein Arzt – übrigens auch keine Pflegeperson – von vorneherein zu einer umfassenden Unterstützung beim FVNF verpflichtet fühlen, wenn dies der moralischen Einstellung widerspricht.
Hier kommen wir allerdings zu einer aktuellen Frage, die keineswegs speziell mit dem Sterbefasten zu tun hat: Wie sollen Ärzte und Sterbehilfeorganisationen mit Menschen umgehen, die «nur» lebenssatt sind, denen medizinisch fast nichts fehlt oder, wie sie argumentieren könnten: noch nichts fehlt. Wie soll man sich verhalten, wenn sie um Beihilfe zum vorzeitigen Sterben bitten? Jeder darf doch in fortgeschrittenem Alter darüber nachdenken, ob er später vielleicht von einem recht unangenehmen medizinischen Problem getroffen werden könnte, wozu auch eine Demenz gehört. Für diese Menschen – die man nicht erst alle zum Psychiater schicken muss, weil sie meistens ganz vernünftig sind – kann man erwägen, ihnen den Weg des Sterbefastens vorzuschlagen und den Zugang zu NaP zu verweigern. Ich will das nur einmal in den Raum stellen – eine abschliessende Meinung dazu habe ich nicht.
Aus einer ethisch-philosophischen Sicht scheint es mir nahe zu liegen, dass man umso eher und sozusagen komfortabler beim vorzeitigen Sterben helfen soll, je schlimmer jemand augenscheinlich leidet. Und umgekehrt: dass man ihn umso zögerlicher und gegebenenfalls eben weniger komfortabel dabei unterstützt, je weniger er leidet, sprich ihm eine größere Anstrengung zumuten darf als Schwerstkranken. Das ist indessen heikel, und wenn ich mich dann wiederum als Bürgerrechtler sehe, dann neige ich dazu, jedem das Recht zuzugestehen, sein Leben vorzeitig zu beenden, wenn er dies aus wohlüberlegten Gründen tun will. Aber das bedeutet meines Erachtens noch nicht, dass er auch einen Anspruch auf die Unterstützung anderer, etwa durch eine sehr grosszügige Regelung im Medizin-Sektor, erheben kann.
Diesem Problem muss sich zum Beispiel auch die schweizerische Initiative «Altersfreitod» stellen, auf deren Homepage man unter anderem liest: «Deshalb setzen wir uns für klare Regeln und auch für die notwendigen Vorsichtsmassnahmen beim erleichterten Zugang zum Sterbemittel für Betagte ein.» Andererseits vertrete ich im Hinblick auf Länder, in denen Suizidhilfe noch immer verboten ist: Es ist erniedrigend, wenn jemand den Weg des Sterbefastens gehen muss, weil ihm kaum eine andere Wahl geboten wird. Nur wer sich aus freien Stücken dazu entscheiden kann, – nur für den ist das ein würdiges Sterben.
Sie sehen, nun bin ich da angekommen, wo ich, aber vielleicht auch Sie, noch nicht so recht wissen, wie wir weiterkommen. Die Zukunft bleibt so gesehen also spannend.
Ich möchte abschliessend aber noch einmal kurz auf das Sterbefasten zurückkommen:
Wer gut informiert auf diese Weise vorzeitig aus dem Leben scheiden will, der will wirklich sterben. Ich gestehe niemandem ein Recht zu, ihm das zu verbieten. Und falls solch ein Wunsch einer Laune entspringen könnte, dann kann jeder auch bald mit dem Sterbefasten wieder aufhören. Umgekehrt darf man betonen: Die Festigkeit des Sterbewunsches erweist sich im Vollziehen des Sterbefastens.
Allerdings muss ich eine Warnung hinzufügen: Es kann gerade dann zu einem schlechten Verlauf kommen, wenn sich jemand diesen Weg recht forsch einfach zutraut und sich vorher nicht gut informiert. Einige Fälle auf unserer Webseite sterbefasten.org veranschaulichen dies – leider. Sterbefasten wurde wohl schon immer und auch noch heute nicht ganz selten von einzelnen Menschen intuitiv quasi erfunden und durchgeführt. Dass sich kein Wissen dazu herausgebildet hat, mag diverse Gründe haben, vielleicht auch, dass es wohl oft kein angenehmer Weg war. Jedenfalls wollten der niederländische Psychiater Boudewijn Chabot und ich mit unserem Buch «Ausweg am Lebensende» vor fast zehn Jahren allen (im deutschsprachigen Raum), die es interessieren könnte, die nötigen Informationen für ein gutes Gelingen zur Verfügung stellen. Seit einigen Jahren gibt es hierzu ja auch die Webseite sterbefasten.org mit vielen fachlichen Tipps.