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100 Jahre selbstbestimmt

Zum 100. Geburtstag von Rolf Sigg


Rolf Sigg wird am 16. Februar 2017 100 Jahre alt. Der einstige Geschäftsführer von EXIT lebt noch heute selbstständig und selbstbestimmt in der eigenen Wohnung. Die Journalistin Katrin Sutter hat anlässlich des runden Geburtstags einige seiner Wegbegleiter und auch den ehemaligen Pfarrer und Psychologen selber getroffen, der als sehr streitbarer, aber durchaus charmanter Vorkämpfer für die Sterbehilfe tätig war und die Stiftung palliacura gegründet hat.


«Energie für zwei», «ein unermüdlicher Kämpfer», «Visionär»: Worte über Rolf Sigg, die ich wiederholt von ehemaligen Wegbegleitern höre. Er sei ein Mann, der wie kein anderer mit seiner Person für Selbstbestimmung und Sterbehilfe einstehe. Einer, dem die Sache wichtiger ist, als die öffentliche Reputation. Rolf Sigg, so wird mir gesagt, ist ein furchtloser Mann, einer, der früher oft aneckte, sowohl auf der Kanzel wie auch an Vorstandssitzungen bei EXIT oder des Stiftungsrats der EXIT-Hospiz-Stiftung (heute Stiftung palliacura). Ein unbequemer Mann, der trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – viel erreicht hat.

EXIT-Gründung

1982 suchen die beiden Initianten, Hedwig Zürcher und Walter Baechi, Mitglieder für den neu zu gründenden Verein EXIT. Es meldet sich auch Pfarrer Rolf Sigg, der bald darauf Vizepräsident und Geschäftsführer wird. Er, der Theologe und Psychologe ist es denn auch, der drei Jahre später die Kompetenz, Courage und das Feingefühl hat, um die ersten Sterbebegleitungen durchzuführen. Selbstbestimmung bis ans Lebensende, ein Thema, das in den 1980er-Jahren breit diskutiert wird und gesellschaftsrelevant ist.

Für Rolf Sigg ist es darüber hinaus auch ein ganz persönliches Anliegen. Ein paar Jahre vor der EXIT-Gründung: Siggs bester Freund, auch Pfarrer, ist todkrank und grossen Schmerzen ausgesetzt. Leidend äussert er den Wunsch, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, den qualvollen Weg in den Tod abzukürzen. Er hofft, der liberal eingestellte Rolf Sigg könne ihm dabei helfen. Sigg kann nicht – und muss ohnmächtig mit ansehen, wie dem besten Freund ein würdevolles Sterben verwehrt bleibt. Mehrfach nennt Sigg dies fortan sein «Schlüsselerlebnis».

Wie ihn Wegbegleiter erleben

«Es hat ihn tief getroffen, dass er damals für seinen Freund nichts tun konnte. Er, der sonst alles im Griff hatte, war dem Schicksal ausgeliefert.» Das erzählt mir Elke Baezner, ehemalige EXIT-Präsidentin. Dank seiner Arbeit bei der Sterbehilfeorganisation kann er Menschen mit ähnlichen Krankengeschichten helfen. Und so ist Sigg in den Gründerjahren getrieben davon, das liberale Gedankengut von EXIT bekannt zu machen und in der Gesellschaft als richtig zu verankern. Sigg sucht und findet Spendengelder, wirbt äusserst erfolgreich um Mitglieder. In seiner Zeit wuchs der Verein auf 65 000 Personen an. Er hat, so erzählt man mir, ein untrügliches Gespür für Marketing, lange bevor man dies wohl so nannte. Als Kirchenmann zeigt der EXIT-Geschäftsführer Courage und kämpft erbittert an gegen die – so wie er es sieht – Scheinmoral der Kirche. Für ihn, so erfahre ich bei der Lektüre seines Buches «Freiwillig in Würde sterben» (Verlag EX International) ist es eine zutiefst christliche Tat, einem sterbenden Menschen zu helfen, den Tod würdevoll und selbstbestimmt zu erleben.

Einen Heiligenschein will ihm Elke Baezner trotzdem nicht verleihen: «Er war auch ein Diktator. Aber ein guter Diktator für eine gute Sache!» Ein Mensch, so höre ich aus Baezners Worten heraus, der gleichermassen fasziniert und verärgert, ja manchmal beruflich gar schwer auszuhalten ist. Baezner erlebte Rolf Sigg aber auch als jemanden, der hinter der furchtlosen und couragierten Fassade ein grundempfindsamer, emotionaler Mensch ist, der es schlecht aushält, menschlichem Leiden tatenlos zuzusehen.

Visionär und Vorreiter

Mit wem ich rede, alle anerkennen Rolf Sigg, als Visionär. Ein Vorreiter. «Er war damals in vielem seiner Zeit voraus», so Jacques Schaer, ehemaliges Vorstandsmitglied von EXIT und alt Stiftungsrat palliacura. Schaer betont aber auch, Rolf Sigg wäre nicht wer er ist, ohne die Unterstützung durch seine zweite Frau, Lucia Sigg. Während er um Mitglieder und Akzeptanz wirbt, erledigt sie die grosse administrative Arbeit im Hintergrund. Das Geschäftsführerbüro von EXIT ist so während Jahren in Grenchen angesiedelt, im Hause der Siggs. Im Gegensatz zu ihrem Mann erledigt die Frau die anstehenden Arbeiten nicht aus Leidenschaft an der Sache, sie macht es, um ihrem Mann zu helfen. So begleitet sie ihn anfänglich gar bei seiner Arbeit als Sterbehelfer.

Obwohl ihr Mann 16 Jahre älter ist als sie, bereits im Pensionsalter, spürte man davon nichts. «Er eilte unermüdlich von Sitzung zu Sitzung, er war immer voller Tatendrang», so Ernst Haegi, ehemaliger Stiftungsrat und langjähriger Präsident der Stiftung für schweizerische EXIT-Hospize, der heutigen palliacura. Haegi erlebte dann aber auch, wie Siggs Tatendrang erstmalig gebremst wurde. In den späten 1980er-Jahren ist es Rolf Siggs Vision, in der Schweiz nach englischem Vorbild Sterbehospize zu errichten. Er findet grosszügige Spender für dieses Vorhaben und in Burgdorf auch ein Haus, das sich nach kostenintensivem Umbau als Hospiz eignet.

Enttäuschung und Bruch

Der Betrieb kann jedoch nie kostendeckend geführt und das Hospiz muss aufgegeben werden. «Das war eine riesige Enttäuschung für ihn.» Rolf Sigg verlässt daraufhin 1994 die EXIT-Hospiz-Stiftung, tritt 1997 auch als Geschäftsführer von EXIT zurück und gründet die Sterbehilfevereinigung «EX International». In den Medien und bei Generalversammlungen bleibt er aber durchaus graue Eminenz, versucht, die EXIT-Geschicke weiterhin zu lenken. Ich lese von Querelen, einem zerstrittenen Vorstand und Unruhe. Der Umbruch vom sich noch im Aufbau befindenden zum professionellen und verjüngten Verein gestaltet sich nicht ohne Turbulenzen. Haegi und Baezner erinnern sich aber gerne an Siggs letzte, grosse Tat für EXIT. Er regt an, dass der Vorstand von 15 Personen auf fünf verkleinert wird. Das wird 2001 umgesetzt. Der Grundstein für ein professionelleres Schaffen. Haegi: «Da musste ich sagen, das ist auch der Rolf Sigg! Er hat einfach immer wieder gute Ideen durchsetzen können!»

Das Treffen mit dem Jubilar

Hundert Jahre alt wird Rolf Sigg. Sein Lebenswerk ist die Sterbehilfe. Dafür wird er 2012 mit dem Prix Courage ausgezeichnet. Doch, wie wurde er zu dem Mann, der so leidenschaftlich für die Selbstbestimmung eintritt? Ich rufe ihn an, will ihn treffen. Den abgemachten Termin aufschreiben – «nicht nötig, ich kann ihn mir merken», meint der bald Hundertjährige. In der Tat, er vergisst ihn nicht. «Eintreten», ruft er mit kraftvoller Stimme und auf Hochdeutsch auf mein Klingeln.

Rolf Sigg kann nicht mehr gehen, seine Füsse versagen den Dienst. Aber der Mann, der mir gegenübersitzt, ist perfekt frisiert, elegant gekleidet, sieht aus wie 80, lächelt immer wieder charmant und strahlt eine geistige Frische und Energie aus, wie man das gemeinhin bei einem Hundertjährigen nicht erwartet. Auf dem Nachttisch liegt philosophische Literatur, auf dem Bett sind die «NZZ», «Die Zeit», «Der Spiegel» griffbereit. Mit ihm über aktuelle oder philosophische Themen zu diskutieren, wäre nicht unpassend, denke ich mir. Aber ich treffe ihn, um von früher zu erfahren, von Rolf Sigg, dem Kind, von Rolf Sigg, dem Studenten, dem Pfarrer, dem Psychologen, von Rolf Sigg, dem Verleger und Autoren.

Er sagt mir gleich zu Beginn, das Kapitel EXIT sei die schönste Zeit in seinem Leben gewesen. Er schaue gerne auf sie zurück. Von Enttäuschungen, wie zum Beispiel dem Scheitern der Sterbehospiz-Idee, will er nichts wissen. Er sei halt naiv gewesen zu denken, ein solches könne je selbsttragend funktionieren. Enttäuscht habe es ihn nicht. Sagts, lächelt, zuckt mit den Schultern. Ist er einfach altersmilde, abgeklärt? «Vielleicht», meint er. Er will auch seinen Einsatz nicht als unerbittlichen Kampf sehen. «Ich habe das alles nie so empfunden, es kam mir nie wie ein Kämpfen vor!» Als ihm der Prix Courage verliehen wurde, sei er sehr überrascht gewesen: «Dem Sigg, einen solchen Preis!» Ihm ist bewusst, dass er polarisiert. Und sagt, mit gewinnendem Lächeln: «So bin ich eben.» Punkt. Als Kind jedoch, sei er «weitgehend unauffällig» gewesen.

Kindheit und Jugend

Geboren wird Rolf Sigg 1917, als erstes von vier Kindern. Er wächst in Zürich auf, der Vater, studierter Theologe, arbeitet als Amtsvormund. Den Vater schätzt Sigg so sehr, dass er sich ein Leben lang nicht getraut zu fragen, warum er denn nie als Pfarrer gearbeitet habe. An die Mutter hat er weniger gute Erinnerungen, sie seien nie warm geworden miteinander. Aber, und das prägt den kleinen Rolf: «Sie liess mich früh Entscheidungen treffen, ich durfte selber über mich bestimmen.» In der Schule ist er gut, unauffällig, überschattet ist sein Aufwachsen vom frühen Tod des kleinen Bruders. Während er mir vom Verlustschmerz erzählt, blitzt die von seinen Wegbegleitern attestierte Emotionalität und Sensibilität durch. Die, so denke ich, ihn zum geschätzten Pfarrer und später zum einfühlsamen Sterbebegleiter machen.

Studium und Berufsleben

Rolf Sigg macht die Matura, beginnt ein Jusstudium – «das langweilte mich aber» – und wechselt zur Theologie. Er ist schon als Student liberal eingestellt. Später als Pfarrer eckt der Liberale bei Berufskollegen an. «Das war mir immer gleich», sagt er und ich glaube es ihm sofort. Er sei sehr gerne Pfarrer gewesen, habe gerne gepredigt und noch lieber mit Menschen gearbeitet, speziell mit den Konfirmanden. Als junger Pfarrer gründet er «Von des Christen Freude und Freiheit», eine protestantische Zeitschrift, eine philosophische auch. Zu besten Zeiten erreicht die Zeitschrift 35’000 Abonnenten. Die grosse administrative Arbeit bestreitet wiederum Lucia Sigg. Das Einkommen, das er mit der Zeitschrift macht, erlaubt es ihm, ein zweites Studium zu absolvieren: Psychologie.

Mit 44, andere richten sich gemütlich im Leben ein, sucht sein Geist nach weiterem Futter. Er schliesst das Studium mit dem Doktorat ab und leitet in Folge eine kantonale Erziehungsberatungsstelle. Die protestantische Zeitschrift verlegt er weit über seine Pensionierung hinaus, ganze sieben Jahrzehnte. Am Schluss hat er nur gerade noch 1000 Abonnenten. «Meine Frau hatte Angst, dass ich Verlust mache.» Und sie habe ihm Heft und Verlag «weggenommen». Das sagt er nicht bitter, sondern wiederum lächelnd, mit Liebe und Verständnis für die Frau, die den damals weit über 90-Jährigen bei seiner Arbeit an der Zeitschrift auch stark unterstützen muss. Der Verlag wird liquidiert, das gemeinsame Haus aufgelöst.

Fremdbestimmt im Altersheim

Rolf Sigg, der bereits nicht mehr gehen kann, kommt in ein Altersheim. «Verfrachtet» sagt er, eher belustigt als verbittert. Ihm gefällt es nicht dort, er fühlt sich eingeengt und fremdbestimmt. Ich bin beeindruckt, dass ihn das nicht hadern liess, sondern handeln. Er sucht und findet selber eine rollstuhlgängige, altersgerechte Wohnung. Selbstbestimmung, ja, die lebt er tatsächlich. Mit jeder Faser. Immer noch. Trotz Rollstuhl, trotz hohem Alter. «In meiner Wohnung kann ich selber kochen und jeden Tag einkaufen gehen.»

Zwei, drei Mal pro Woche kommt seine Frau vorbei, man geht auch immer noch regelmässig zusammen ins Kino. Sigg ist erstaunt, dass ich das wiederum alles erstaunlich, ja bewundernswert finde, und sagt mir: «Ich würde gerne noch viel mehr machen!» Sterbebegleitungen zum Beispiel oder noch ein Buch schreiben. «Ich habe nicht das Gefühl, dass mein Leben bald zu Ende ist.» Ich gehe mit ihm einig, zusammen lachen wir über seinen anhaltenden Lebenswillen. Zu mir spricht ein fröhlicher, zufriedener Mensch, der keine Langeweile kennt. Trotz Rollstuhl, hadern sei ihm fremd, aber Rückschau halten, das erlaubt er sich. Er betont mehrmals bei unserem Treffen, wie lieb ihm seine Frau ist, wie sehr sie ihn in allem unterstützte, als Pfarrersfrau, im Verlag und später bei EXIT.

Auf meine Frage, ob er denn überhaupt je genügend Zeit hatte für seine Nächsten, auch für seine Kinder, schweigt er eine Weile. Dann: Er wisse es nicht. Er sei aber sehr gerne Vater gewesen. Und fügt an: «Ich habe es den Menschen, die mich begleitet haben, privat und beruflich, nicht einfach gemacht.» Diese Einsicht, diese Analyse scheint ihm aber keine schlaflosen Nächte zu bereiten. So sei er halt, sagt er: «Rolf Sigg, der Unbequeme.»

KATRIN SUTTER

Bild: Keystone / Christian Schnur