Die Zahlen sprechen für sich: 80 Prozent der alten Menschen in Deutschland möchten zu Hause sterben, mehr als 80 Prozent sterben jedoch im Spital, in einem Pflegeheim oder einem Sterbehospiz. Im Buchmanifest «In Ruhe sterben»* fordern Palliativexperten ein rigoroses Umdenken, vor allem aber ein genaues Hinhören auf das, was sterbende Menschen wirklich möchten. Wie weit deren Wünsche erfüllt werden können, sollte gründlich diskutiert werden.
Die beiden Autoren sind nicht irgendwer. Beide sind studierte Theologen. Reimer Gronemeyer (links) ist Professor für Soziologie an der Universität Giessen und Andreas Heller (rechts) Professor für Palliative Care in Graz und ein profunder Kenner der Hospizbewegung. Auf zwei Pionierinnen dieser Bewegung berufen sie sich in ihrem Buch ausführlich: auf die Londoner Ärztin und Hospizgründerin Cicely Saunders und die Zürcher Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross. Beiden Frauen war die spirituelle Seite der Palliative Care genauso wichtig wie die umfassende, auf den einzelnen Patienten individuell zugeschnittene medizinische Betreuung.
In der heutigen, ins institutionalisierte Gesundheitswesen integrierten Palliativbewegung sehen die Autoren hingegen eine starke Abwendung vom ursprünglichen, spirituell geprägten Gedankengut. Dafür entdecken sie eine zunehmende Tendenz zu technokratischer Verwaltung, einen geradezu diktatorischen Zwang zu ökonomischer Wirtschaftlichkeit und industrieller Effizienz. Sie setzen dies in Bezug zu den gesellschaftlichen Entwicklungen allgemein, insbesondere aber zu der rasch zunehmenden Zahl älterer Menschen. Grundsätzlich sehen sie jedoch keinen Vorteil in den Bestrebungen, Palliative Care zu professionalisieren und das «qualitätskontrollierte Sterben» einzuführen: Sie fordern vielmehr eine Rückbesinnung auf frühere Wertvorstellungen und auf ein fürsorgliches, ruhiges Sterben.
In zwölf Kapiteln stellen Gronemeyer und Heller bedenkenswerte Fragen zu den vielen Tendenzen im Bereich der Palliative Care, bei der Betreuung von Demenzkranken und in der Geriatrie im allgemeinen. Zu jedem Thema vermitteln sie einige grundlegende Fakten; vor allem aber versuchen sie, mit pointiert zugespitzten Meinungen den Leser aufzurütteln und zu überzeugen. Auf jeden Fall ist dieses Buch Denkanstoss zu vielen offenen Fragen, die in unserer Gesellschaft dringend diskutiert werden müssen. Eine durchaus lohnende Lektüre.
Ihren Rundumschlag gegen politische Entwicklungen im Sozialwesen und auch gegen tatsächlich bestehende Auswüchse im medizinischen und therapeutischen Bereich belegen die beiden Experten mit vereinzelten Fallbeispielen. Ausserdem unterstützen sie ihre Aussagen mit ausgesuchten Zitaten aus Schriften beispielsweise von Sigmund Freud oder Rainer Maria Rilke, aus dem barocken «Simplicissimus» und der Bibel oder sogar aus einem neueren Spielfilm. Dies beweist zwar durchaus die Belesenheit der beiden Fachleute und ihr Interesse am aktuellen Geschehen, wirkt aber zuweilen etwas aufgesetzt und unnötig. Die wohl formulierten Sätze und meist geschickt in Frageform verpackten Differenzierungen verschleiern zudem die doch sehr kirchennahe Grundhaltung des Autorenpaares.
Palliative Care unterstützt die Selbstbestimmung des Menschen bis ans Lebensende. Gronemeyer und Heller halten sich leider nicht an ihre kategorische Forderung, Massstab allen Handelns im Palliativbereich müsse der sterbende Mensch selber sein. Wie viele andere Palliativfachleute und ganz im Sinne ihrer Vorbilder Saunders und Kübler-Ross konstruieren die Autoren einen dogmatischen Gegensatz zwischen Palliative Care und Suizidhilfe. Letztere lehnen sie strikte ab. Schade, dass sie hier selber nicht genau genug hinhören: In der Schweiz stehen bekanntlich 80 Prozent, in Deutschland mehr als 60 Prozent der Bevölkerung der Suizidbegleitung offen und positiv gegenüber.
PETER KAUFMANN
Oktober 2014
Buch:
* Reimer Gronemeyer, Andreas Heller:
«In Ruhe sterben. Was wir uns wünschen
und was die moderne Medizin nicht leisten kann»,
2014, Pattloch Verlag, München,
ISBN 978-3-629-13011-2 + E-Book