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Neue Perspektiven bei der Suizidprävention

In einem in England erschienenen Buch* befasst sich der US-amerikanische Psychologe Craig J. Bryan mit der Suizidprävention und kommt zu teilweise überraschenden Ergebnissen und Erkenntnissen. Er erklärt, wieso die Prävention oft versagt und welche neuen Wege eingeschlagen werden sollten.

Im Jahr 2022 starben in der Schweiz 1594 Personen, davon 945 Frauen, durch assistierten Suizid. Dennoch: Wer wie die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung für eine liberale Regelung des assistierten Suizids eintritt, sollte nicht die Notwendigkeit übersehen, die Zahl tragischer Suizide zu reduzieren. In der Schweiz nimmt diese Zahl seit vielen Jahren konstant ab und ist mittlerweile bedeutend kleiner als die der assistierten Suizide (2022: 958 Personen, davon 695 Männer). Die Zahl «erfolgloser» Suizidversuche wird jedoch nicht erfasst, ist aber vermutlich mindestens zehnmal so gross.

In einem weiten Spannungsfeld

Suizidprävention steht heute in einem Spannungsfeld zwischen traditioneller psychiatrischer Sicht und modernen Ansätzen, die nicht zuletzt der Verhaltenspsychologie zu verdanken sind. Diese Einschätzung ergibt sich bei der Lektüre des Buches «Über Suizid neu nachdenken – warum Prävention versagt, und wie wir es besser machen können» (Übersetzung des Titels aus dem Englischen von C.W.). Autor ist der Psychologe Craig J. Bryan, ein durch zahlreiche Publikationen in Fachzeitschriften ausgewiesener Experte. Durch die Lektüre des teils recht anspruchsvollen, oft aber packenden Buches ist zu erfahren, dass Bryan seine ersten, prägenden Erfahrungen mit Suiziden machte, als er im Irakkrieg bei der US-Armee arbeitete. Um es vorwegzunehmen: Die vom Autor am Ende vorgelegten Vorschläge sind ein Eingeständnis, dass man bei der Suizidprävention keine gewaltigen Verbesserungen erreichen kann. Zudem sind sie auf Mitteleuropa nur teilweise übertragbar: So etwa eine für die USA breit anzustrebende neue Einstellung der Besitzer von Schusswaffen, eine Voraussetzung, die für die Schweiz kaum zutreffend ist.

Widerlegte Vorstellungen

Die vielleicht wichtigste Aussage des Buches jedoch ist: Durch neuere Erhebungen darf die bisher breit akzeptierte Vorstellung als widerlegt gelten, etwa 90 Prozent der nicht-assistierten Suizide seien die Folge einer psychischen Erkrankung. Diese Erkenntnis sowie neue Ansätze zur Suizidverhinderung – die allerdings recht aufwendig sind – setzen sich bislang aber kaum durch. Bryan legt ein Modell für Suizidalität vor, das systemtheoretische Ansätze, Erhebungen, Tests und sogar Gehirnuntersuchungen mit bildgebenden Verfahren vereinigt. Vereinfachend lässt sich der Entschluss zum Suizid (nicht gleichzusetzen mit dem Denken an Suizid) als ganz plötzlicher Kontrollverlust beschreiben. 

Viele Suizide ereignen sich tatsächlich binnen einer extrem kurzen Zeitspanne: Zwischen dem vorbereitenden mentalen Prozess und der Handlung selber liegen meist weniger als 24 Stunden (was frühere Befunde bestätigt). Für die Behandlung Suizid-Gefährdeter, vor allem auch solcher, die einen Suizidversuch überlebt haben, bewährt sich ganz besonders das Fördern des richtigen Umgangs mit Stress und anderen Belastungen (was sich offenbar gut trainieren lässt) sowie die Ausrichtung auf das, was das Leben trotz aller Probleme lebenswert macht. Dies ist auch bei psychisch Kranken erwiesenermassen deutlich erfolgreicher, als sich primär auf die Behandlung der Erkrankung zu konzentrieren.

CHRISTIAN WALTHER, MARBURG

Eine gekürzte Version des Artikels ist in der Zeitschrift «Humanes Leben – Humanes Sterben» 24/2 erschienen.


Craig J.Brian: «Rethinking Suicide: Why Prevention Fails, and How We Can Do Better», November, 2021 by Oxford University Press, ISBN 9780190050634