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Restriktive gesetzliche Lösungen sind nicht mehr möglich

Im Abstimmungskampf um die EDU-Zwilingsinitiativen gegen die Sterbehilfe hat sich der Zürcher alt Regierungsrat Dr. med. Alfred Gilgen 2011 als Kopräsident im Komitee «Selbstbestimmung am Lebensende» engagiert. In einem Interview zeigte er sich damals überzeugt davon, dass der erfreuliche Abstimmungsentscheid gesamtschweizerische Auswirkungen haben werde.

Warum haben Sie beim Komitee «Selbstbestimmung am Lebensende» mitgewirkt?

Alfred Gilgen:
Ich habe eigentlich zum Voraus schon erwartet, dass die Initiative gegen die Sterbehilfe keine Chance hatte. Bei der Initiative, die ein Verbot des sogenannten Sterbetourismus forderte, glaubte ich aber, in der Bevölkerung eine deutliche Ablehnung des Sterbetourismus zu spüren. Das hätte zu mehr Ja-Stimmen bei dieser Initiative führen müssen. Eine Annahme dieser Initiative aber hätte fatale Folgen für EXIT haben können: Eine Aargauerin hätte beispielsweise nicht mehr im Zürcher Sterbezimmer begleitet werden können. Deshalb habe ich mich im Komitee engagiert.

Über 78 Prozent der Zürcherinnen und Zürcher, die an die Urne gegangen sind, haben die Initiative gegen den Sterbetourismus abgelehnt, sogar über 84 Prozent die Initiative, die Sterbehilfe generell verbieten wollte. Wie beurteilen Sie dieses Resultat?

A.G.: Das Resultat hat zu Recht überall Aufsehen erregt. Es ist weltweit das erste Mal, dass über das Thema Sterbehilfe abgestimmt werden konnte. Es freut mich, dass das Resultat auch beim Sterbetourismus so deutlich ausgefallen ist. Den Befürwortern der Zwillingsinitiativen ist es nicht gelungen, ihre Anhänger zu mobilisieren, nicht einmal in jenen Bezirken, in denen der Anteil christlicher Fundamentalisten höher ist. Lediglich im Bezirk Hinwil lag die Befürwortung sieben Prozent, respektive neun beim Sterbetourismus über den kantonalen Durchschnittswerten.

Wenn zum vornherein feststand, dass die Zwillingsinitiativen keine Chance haben, wieso brauchte es dennoch ein gegnerisches Komitee?

A.G.: Wir wollten sicher sein, dass die beiden Initiativen deutlich abgelehnt werden. Wahlen und Abstimmungen sind ja keine wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern Ergebnis politischer Vorgänge. Ein hoher Nein-Stimmenanteil sollte Auswirkungen auf die Bundespolitik haben. Das Ziel ist bezüglich des hohen Nein-Stimmenanteils erreicht.

Wie weit kann denn ein solches Abstimmungsresultat die Meinung des Bundesrats und der eidgenössischen Parlamentarier beeinflussen?

A.G.: Andere politische Gruppierungen wollen die Politik mit Aktionen und Demonstrationen im Sinne ihrer Anliegen beeinflussen. Umso mehr können auch die Resultate kantonaler Abstimmungen einen starken Einfluss auf Bundesebene nehmen. Ein Verbot der Sterbehilfe oder restriktive gesetzliche Lösungen, wie sie Bundesrätin Evelyne Widmer-Schlumpf in ihrem Entwurf für eine gesetzliche Regelung vorgeschlagen hatte, sollten nach dieser Abstimmung nicht mehr möglich sein.

Wie sehen Sie eine klare Regelung der Sterbehilfe?

A.G.: Vorab eine einvernehmliche Lösung, wie sie im Kanton Zürich zwischen den Behörden und EXIT seit Längerem praktiziert wird. Wenn es auf Bundesebene eine Aufsichtsregelung geben sollte, müsste die Rolle der Ärzte anders definiert werden. Ärzte haben eine grosse Erfahrung mit dem Kranksein und dem Sterben. Darum sind sie als Gutachter und Berater unverzichtbar. Aber muss wirklich jedes Rezept für ein Barbiturat von einem Arzt ausgestellt werden? Dies könnte durchaus unter Auflagen den Sterbehilfeorganisationen anvertraut werden.

Sie sind seit zehn Jahren EXIT-Mitglied und engagieren sich für die Thematik der Sterbehilfe in der Öffentlichkeit. Welches sind Ihre Beweggründe für dieses Engagement?

A.G.: Für mich ergibt es keinen Sinn, nicht einmal in einer christlichen Auslegung, einen kranken Menschen jahrelang leiden und vor sich hin dösen zu lassen. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass jedes Individuum selbstbestimmt etwas zu sagen hat zu seinem eigenen Leben und zu seinem Sterben.

PETER KAUFMANN
Mai 2011

Bild:
Alfred Gilgen war während 12 Jahren Stiftungsrat palliacura. Seine präzise Arbeit, seine Genauigkeit und seine klaren Urteile waren wohl allen im Stiftungsrat ein stetes Vorbild. 2011 leistete der Zürcher alt Regierungsrat mit seiner grossen politischen Erfahrung einen wichtigen Einsatz im Abstimmungskomitee «Selbstbestimmung am Lebensende», das gegen die Zürcher Zwillingsinitiativen auftrat, mit denen die Suizidhilfe und vor allem der Sterbetourismus bekämpft wurden. Dieses Komitee wurde mit einer Anschubfinanzierung von palliacura ermöglicht. Die Ablehnung der beiden Volksinitiativen hatte schweizweit Signalwirkung. Alfred Gilgen ist am 12. Februar 2018 im Alter von 87 Jahren verstorben.