2 1 burgdorf w800

Wenn die Gedanken im Nebel versinken

Im bernischen Burgdorf betreute die Pro Senectute Amt Burgdorf bis 2019 im ehemaligen Sterbehospiz der Stiftung palliacura Menschen mit Alzheimer.


Da war diese Frau, 59 Jahre alt, immer war sie unterwegs, bei Wind, Regen oder Schnee. Sie lief bis zu acht Stunden am Tag, sechs Jahre lang – trotzdem kam sie nicht vom Fleck, das war ihr egal, irgendwie. Auf dem Rasen entlang des Gitters und im Garten entstanden Trampelpfade. Beat Bögli, 2011 Leiter der Station Chalet Erika, hat ausgerechnet, dass die Frau etwa 60‘000 Kilometer zurückgelegt haben musste, anderthalbmal um die Erde, immer im Kreis. Vor fünf Jahren ist sie gestorben.

Schleichend umhüllt Alzheimer seine Opfer, wie Nebel an einem kalten Novembermorgen. Tückisch ist diese Krankheit, denn vergessen tut jeder, gerade im Alter. Einige vergessen aber Namen, die sie immer gewusst, Gesichter, die sie immer gekannt hatten. Bis sie nicht einmal mehr wissen, wer sie selber sind und woher sie kommen. Die Medizin forscht fiebrig an neuen Medikamenten, doch es ist schwierig, ein krankes Gehirn zu heilen. Viele Patienten werden Zuhause zur Last, sie kommen in Heime, werden rund um die Uhr betreut. Eines dieser Heime ist das Chalet Erika des Wohnparks Buchegg im bernischen Burgdorf. Träger ist der Verein Pro Senectute Amt Burgdorf. Es ist ein geschichtsträchtiges Haus, dessen Verwendungszweck dem früheren so fremd gar nicht ist: Die Villa Margaritha, wie es damals hiess, war ein Sterbehospiz einer von EXIT ins Leben gerufenen Stiftung.


Sterbende starben woanders

Ein Kiesweg führt durch den Garten, vorbei am Teich, an den hohen Laubbäumen, am verschlossenen Eingangstor. Wankend steht der Mann an der Treppe zum dunkel verfärbten Holzhaus. Eine Pflegerin öffnet die Tür, hilft ihm die Stufen hoch. Jaja, er sei gerne draussen. Im Innern ist es still, kein Gerede, nur zwei Pflegerinnen huschen vorbei in die Küche. Es ist ein kühner Bau, die gewundene Treppe führt hoch zur Turmspitze, zu der nur das zwölfköpfige Personal um Beat Bögli Zutritt hat. Seit 15 Jahren leitet er dieses Alzheimer-Hospiz.

Einst wohnte hier ein namhafter Arzt, dann waren es Esoteriker, die Seminare anboten. 1991 erwarb die Stiftung für Schweizerische EXIT-Hospize (später: palliacura) das Chalet, renovierte es in zwei Jahren für fast drei Millionen Franken. Die Stiftung liess keine Wünsche offen: Die Technik war auf dem neusten Stand, es gab einen rollstuhlgängigen Lift, Einzelzimmer mit Radio, TV und Video, eine Arvenstube als Esszimmer, den Ort der Stille und eine verglaste Veranda mit Sicht auf den Park. An den Wänden hingen teure Bilder, in den Ecken standen verzierte Kachelöfen. Den Patienten sollte es am Lebensende an nichts fehlen. Doch die Sterbenden starben woanders. Die Villa Margaritha war mit zwei bis fünf Bewohnern chronisch unterbelegt. Anscheinend wollte das Volk, wie schon zuvor in Aeschi über dem Thunersee, kein Sterbehaus. Die Krankenkassen bezahlten tiefe Beiträge, dafür waren die Betriebskosten exorbitant. Nach nur drei Jahren mit Hunderttausenden von Franken Defizit hatte EXIT, die den Betrieb hauptsächlich finanzierte, genug. Die Stiftung vermietete das Haus darauf der Pro Senectute.

Auf der Endlosschleife

Ein Heim muss heute wirtschaftlich sein, sagt Eduard Ulli, Vorstandspräsident der Pro Senectute Amt Burgdorf. Der Konkurrenzdruck sei gross. Im Chalet Erika sind denn auch alle zwölf Betten belegt. Blumennamen benennen die Zimmer, Arnika, Löwenzahn, Primel, Skabiosa. Ein Kratzbaum steht im zweiten Stock hinter der Tür, gleich daneben gefüllte Futterschälchen, zwei Katzen wohnen im Chalet mit. Bögli öffnet eine andere Tür. «Hallo, wer ist da, wer ist da?», tönt es unsicher von drinnen. – «Wir sind nur kurz auf Besuch. Auf Wiedersehen.» An den Wänden über den Betten hängen Bilder mit lachenden Kindergesichtern und Familien, ein Plüsch-Husky sitzt auf dem Stuhl. Draussen der Balkon mit Auffangnetz, die Fenster sind speziell verschlossen. Verwechslungsgefahr mit Türen. Sicher ist sicher. Bögli schätzt die Atmosphäre dieses Hauses, die Wärme, die es ausstrahlt. Die Bewohner können ihre eigenen Möbel mitbringen, das erhalte natürliche Strukturen.

Die meisten Patienten sitzen in der Stube, scheinen zu schlafen. Nur Martin*, Halbglatze, weisser, feiner Bart, kommt auf Bögli zu, grüsst den «Chef» mit festem Händedruck.

- «Wie geht es Ihnen?»
- «Wir gehen nach Hause, bin noch nie dort gewesen.»
- «Ihre Frau kommt heute.»
- «Ist sie denn nicht am Arbeiten?»
- «Nein, das muss sie nicht mehr.»

Die Pflegenden lassen die Alzheimer-Patienten in deren Welt leben – so gut das eben geht. «Aber wir belügen sie nicht», sagt Bögli. Manche werden wütend, drohen mit Anwälten, der Polizei. Die Geschichten beginnen immer wieder von vorne. Manchmal haben sich im Hospiz Pärchen gefunden und kommunizieren auf ihre ganz eigene Weise, die niemand versteht. Bögli hat schon viele Patienten kommen sehen, die meisten von ihnen verabschiedet er irgendwann in der Aufbahrungshalle. Derweil wächst in der Bevölkerung die Krankheit weiter. Ein Patient mit Jahrgang 1962 war jünger als Bögli selber. Noch sind das Einzelfälle.

Erst seit ein paar Wochen wohnt Martin* hier, meint, seine Frau hole ihn demnächst aus den Ferien ab. Doch sie kommt ihn nur regelmässig besuchen, immer dienstags und samstags. Er wartet schon, als Bögli auf die Terrasse tritt. Er sei entlassen worden, suche seine Frau. «Bei wem muss ich mich melden?» Er streckt Bögli die Hand entgegen, «alles Gute, danke vielmals.» Der Stationsleiter lässt sich nichts anmerken, er weiss, sie wird am Nachmittag kommen und auch wieder gehen. Ohne Martin. Er wird wütend werden, vielleicht, dann müde. Und morgen oder übermorgen wird er wieder auf ihn zukommen und ihm Lebewohl wünschen.

*Name geändert

JULIAN PERRENOUD


«Es wird kranken Menschen geholfen»

Bild Jacques Schaer


Jacques Schaer war Stiftungsrat bei palliacura und früheres Vorstandsmitglied von EXIT. Er hat den Aufbau und die Wirren um die Villa Margaritha, des heutigen Chalet Erika, hautnah miterlebt. palliacura ist die Besitzerin der Liegenschaft in Burgdorf.

Sie waren Mitgründer des Sterbehospizes in Burgdorf Warum hat es nicht funktioniert?

Jacques Schaer: Ich denke, der fehlende Erfolg war auf den Namen EXIT zurückzuführen. Obwohl wir uns vor der Eröffnung gegenüber dem Kanton Bern verpflichteten, im Hospiz keine Suizidhilfe zu gewähren, schreckte dieser Name die Leute wohl ab.

Trotz Unterbelegung schossen die Kosten in die Höhe.

Der Aufwand war enorm! Die Patienten starben oft nach drei, vier Tagen. Die Krankenkassen waren bereit, pro Tag und Person 44 Franken zu bezahlen. Wir liessen ein Gutachten erstellen, das zeigte: Ein Patient kostet uns täglich 700 bis 800 Franken. Das konnte nicht gutgehen.


Warum haben Sie Burgdorf gewählt und nicht einen anderen Ort?

Wir haben jahrelang gesucht. Erst kauften wir ein Ferienchalet in Aeschi bei Spiez. Doch die Anwohner hatten Angst, dass die Kinder den schwarzen Todeswagen zu oft vorbeifahren sehen würden. EXIT-Mitglieder gaben uns darauf neue Hinweise, wo wir ein Hospiz eröffnen könnten.

Die an Pro Senectute vermietete Villa Margaritha erwirtschaftet für Ihre Stiftung wieder Gewinn. Was geschieht mit der Rendite?

Wir spenden für Projekte in der Palliativmedizin, Institutionen, die unheilbar Kranken und Leidenden die letzte Lebenszeit erleichtern. Ein Beispiel ist das Hospiz im Park in Arlesheim. EXIT-Mitglieder unterstützen wir mit bis zu 5000 Franken, sollten sie dort palliative Pflege beanspruchen.

Zurück zu Burgdorf: Dort hat die Stiftung ihr Ziel verfehlt.

Nicht ganz. Obwohl wir das Sterbehospiz schliessen mussten, folgte mit der Station Chalet Erika ein vergleichbarer Betrieb. Ein Vierteljahrhundert lang war in der früheren Villa Margaritha ein Alzheimer-Hospiz untergebracht, der Verwendungszweck blieb der gleiche: Es wurde älteren, kranken Menschen geholfen.

JULIAN PERRENOUD
Mai 2011