Wernerkriesi w800

Demenzerkranke: Der richtige Zeitpunkt zum Sterben

Demenzkranken stellt sich die Frage «Wie will ich noch leben – wie sterben?», so der Untertitel eines Buches über Alzheimer*. Pfarrer Werner Kriesi, früher Präsident von EXIT und Stiftungsrat palliacura, hat als langjähriger Leiter der Sterbebegleitung von EXIT viele Einblicke in die schwierige Situation von Demenzkranken und ihren Angehörigen gewonnen. Werner Kriesi verstarb im Sommer 2023.


Werner Kriesi,
über 100’000 ältere Leute sind in der Schweiz an Demenz erkrankt, die Zahl steigt kontinuierlich an. Welche Auswirkungen hat dies?


Die Schweizerische Alzheimervereinigung rechnet damit, dass sich die Zahl der Demenzkranken bis im Jahre 2050 mehr als verdoppeln wird. Niemand weiss sicher, wie sich die Entwicklung gestalten wird. Es könnte gut sein, dass die Schätzungen zu optimistisch sind und zwar alleine wegen der rasanten Entwicklung der apparativen Medizin.

Wie meinen Sie dies?

In einem kürzlich erschienen Artikel im Tages-Anzeiger am 28. Juli, verfasst von Kathrin Blawat, lesen wir folgendes: «Ist die Demenz vielleicht weniger eine Krankheit als vielmehr die unvermeidbare Folge des alternden Gehirns.» Ich neige zu dieser Auffassung. Das würde heissen: Die heutige Medizin wird immer raffiniertere Methoden entwickeln, lebenswichtige Organe auch bei alternden Menschen am Funktionieren zu erhalten. Damit entsteht das, was Fachleute als «biologische Falle» bezeichnen. Das heisst: Der Körper kann physiologisch weit über die «natürlichen» Grenzen hinaus am Leben erhalten werden, das Gehirn aber stirbt während einer Phase von fünf bis zu zehn Jahren oder mehr, kontinuierlich ab. Damit entsteht eine dramatische Inkongruenz im Alterungsprozess zwischen lebenswichtigen Organen und dem Gehirn, wobei bis jetzt alle Medikamente nicht wirksam genug sind, den Abbau im Gehirn aufzuhalten. Es ist abzusehen, dass die Belastbarkeit unsere Pflegeeinrichtungen an eine Grenze stösst. Gegenwärtig weiss wohl niemand, wie wir dieses Problem bewältigen werden, falls die heutige Prognose zutreffen würde.

60 Prozent der Demenzkranken können noch längere Zeit zu Hause bleiben: Dies bedeutet oft eine lange Leidenszeit für die Betroffenen und die Angehörigen. Wie sehen Sie diese Situation?

Das ist von Familie zu Familie so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Das liegt daran, dass sich der Persönlichkeitszerfall einer demenzkranken Person grundverschieden auswirken kann, nicht nur in der Dauer, sondern auch in der Intensität. Eine solche Person kann in ihrem Wesen «lieb und sanft» sein, kindlich und angenehm im Umgang, sogar anhänglich und dankbar. Ich erlebte eine Frau, die schmuste und pflegte ihre Puppe den ganzen Tag und wurde nur unwillig, wenn man diese während des Essens weglegen wollte. Sie liess sich auch nicht gern duschen. Solche Pflege ist über viele Jahre erträglich, besonders in einem stabilen Familiengefüge. In anderen Familien erlebte ich Dramen: Ein ehemaliger Generaldirektor einer Grossbank pisste in unbewachten Augenblicken vom Balkon auf die belebte Strasse, brannte durch, zog sich im Tram nackt aus und wurde von der Polizei nach Hause gebracht. Die Ehefrau brachte es nicht übers Herz, ihren Mann – als ehemals hochstehende Persönlichkeit – in ein Heim einweisen zu lassen, was dann ein halbes Jahr vor seinem Tode doch unumgänglich war. Andere Patienten werden «böse» bis gefährlich. Ein pensionierter Bezirksgerichtspräsident bedrohte seine Frau regelmässig mit dem Sackmesser und die Frau wollte lange nicht begreifen, dass diese Aggressionen krankheitsbedingt zu verstehen – und alle Appelle sinnlos und wirkungslos sind. Sie sagte mir einige Male: «Mein Mann war doch Richter, der muss doch wissen, was er tut.» Damit zeigt sich auch, dass es oft schwer ist, Laien verständlich zu machen, dass solche Erscheinungen mit Moralversagen nichts zu tun haben, sondern von der Krankheit her zu verstehen sind.

Wie fühlen sich Angehörige in einem solchen Fall?

Viele Familien kommen sich als Versager vor, wenn eine Einweisung nicht mehr zu umgehen ist. Für manche bedeutet jeder Besuch in einem Heim eine Qual, zum Beispiel einem geliebten Familienmitglied gegenüber zu sitzen, das niemanden mehr mit Namen kennt und vom Besuch kaum Notiz nimmt. Ob zu Hause oder im Heim: Viele pflegende und mitbetreuende Angehörige verkraften auf die Dauer die Belastung nicht und erkranken körperlich oder psychisch.

Was kann die palliative Pflege bei Demenzkranken bewirken?

Ich verstehe jede Art von Pflege bei demenzkranken Menschen im weitesten Sinne als Palliation. Der weite und schützende Mantel, mit dem wir einen kranken Menschen umhüllen, ihn begleiten, mit ihm sprechen, sein Leiden lindern, das sicher zum Tode führen wird. Aber wir müssen daran denken, dass die meisten Familien auf die Dauer überfordert sind und es auch zur Palliativpflege gehört, ausserfamiliäre Unterstützung in angemessenem und möglichem Umfange zu organisieren. Nicht selten ist ein einziges Familienglied übermässig belastet. Palliation muss auch die Pflegenden it einbeziehen. Die innerfamiliäre Pflege kann für eine Person zur Folter werden.

Suizidbegleitung ist nur möglich, wenn die Sterbewilligen urteilsfähig sind. Wie lässt sich bei Demenzkranken feststellen, ob sie noch urteilsfähig sind?

Die Fachleute verfügen über verschieden Testmethoden, die ich hier im Detail nicht beschreiben kann. Bereits bei mittelgradiger Demenz beauftragen wir einen psychiatrischen Facharzt mit der Beurteilung. Aber auch wir als medizinische Laien können feststellen, ob eine Person sich nach Zeit und Ort noch orientieren kann, ob sie weiss, mit wem sie spricht, wo sie sich befindet, welches Thema man bespricht und welche Menschen sie um sich hat. Nach einem Gespräch, das ich mit einer demenzkranken Frau in Anwesenheit ihrer Tochter führte, fragte sie diese: «Warum ist jetzt dieser Mann zu uns gekommen, ich weiss auch nicht, wie er heisst? Will er mich mitnehmen?» Wir haben die ganze Zeit über einen möglichen Freitod gesprochen, den die Frau früher immer gewünscht hat. Somit war klar, dass diese Patientin nicht mehr genügend geistesklar ist, um eine Freitodbegleitung durchführen zu können.

Muss der Entscheid zum Suizid nicht oft in einem sehr frühen Stadium der Erkrankung gefällt werden, wo das Leben noch einigermassen lebenswert wäre?

Ich habe Demenzkranke in den Tod begleitet, bei denen die Diagnose bereits vor fünf bis sieben Jahre gestellt worden ist und die seit dieser Zeit eine eingeschränkte, aber doch noch gute Lebensqualität geniessen durften. Der Prozess kann sehr langsam vor sich gehen, Eine Frau von etwa 60 Jahren übertrug mir eine Mitverantwortung, indem sie mir sagte: «Ich bitte Sie, gut aufzupassen, dass ich nicht zu früh sterbe, aber auch den richtigen Zeitpunkt nicht verfehle, denn ich will niemals über viele Jahre in einem Heim dahinsiechen, lieber sterbe ich vorher.» Wir trafen einander oder telefonierten miteinander in Abständen von einigen Monaten während ungefähr drei Jahren. Als ich sie im folgenden Frühjahr traf, erklärte sie mir, sie werde sich zur Sicherheit im Herbst beim Psychiater erneut abklären lassen. Ich sah sie an und erwiderte: «Im Herbst ist es zu spät. Sie haben mich gebeten, aufzupassen, damit sie den Zeitpunkt nicht verpassen. Ich bitte Sie jetzt, den Psychiater aufzusuchen und mir den Bericht zu schicken.» Meine Einschätzung erwies sich als richtig. Ich begleitete die Frau drei Wochen nach unserem Treffen. Ihre Lebensqualität war noch passabel in mancher Hinsicht. Aber sie litt doch sehr am Zerfall ihres Gedächtnisses und an den vielen Schwierigkeiten, die sich bei einfachsten täglichen Verrichtungen eingestellt hatten. Sie wusste jedoch ganz klar, dass sie so nicht mehr leben will und war im Blick auf ihren Sterbewunsch noch urteilsfähig.

Viele EXIT-Mitglieder sind überzeugt, ihre Patientenverfügung genüge, dass EXIT sie im Falle einer Demenzerkrankung begleiten kann: Wie beurteilen Sie diesen Fall?

Die Patientenverfügung (PV) kommt bei einem Freitod nicht zur Anwendung. Solange wir urteilsfähig sind und selber entscheiden können, was wir tun wollen, braucht es die PV nicht. Diese wird erst dann notwendig, wenn wir selber nicht mehr entscheidungsfähig sind. Angehörige und Ärzte müssen dann gemäss unserem mutmasslichen Willen entscheiden. Für den Fall einer weit fortgeschrittenen Demenz, wenn die Urteilsfähigkeit erloschen ist, muss die PV so abgefasst werden, dass die zuständige Ärzte alle lebenserhaltenden Massnahmen einstellen müssen und zwar unter den Umständen, die eine Person in der PV festgelegt hat.

*Ruth Schäubli-Meyer «Alzheimer», Oesch Verlag