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«Bessere Palliativpflege schon zuhause»

Das Spital Affoltern ZH verfügt über ein Kompetenzzentrum für Palliativpflege. Dr.med. Roland Kunz, ärztlicher Leiter des Zentrums bis 2017 und Träger des ersten Schweizer Palliative-Care-Preises, plädiert für ein frühes Einsetzen der Lebensendpflege. Das nachfolgende Gespräch wurde 2013 geführt.


Dr. Kunz, Sie leiten das Spital Affoltern mit einer bekannten Palliativabteilung. Die Nachfrage ist gross. Wie vielen Patienten können Sie mit stationärer Palliative Care tatsächlich helfen?

Roland Kunz:
Die Palliative Care weist heute eine hohe Qualität auf. Mit einem ganzheitlichen Ansatz, der nicht nur auf körperliches Leiden fokussiert, versuchen wir, allen Patienten und ihren Angehörigen zu helfen. Bei über 90 Prozent der Patienten können wir die Schmerzen wirkungsvoll lindern. Bei den restlichen 10 Prozent ist dies manchmal nur unter einer mehr oder weniger starken Sedation möglich.

Kann die Palliativmedizin ein menschenwürdiges Lebensende ermöglichen?

Kunz:
Wir hatten einen Patienten, einen selbständigen Unternehmer, der unheilbar an Krebs erkrankt war. Sein Ziel war es erst, möglichst schnell zu sterben. Wir konnten aber viele seiner Symptome behandeln. Nach zwei Wochen ist der Mann wieder ausgetreten. In den folgenden drei Monaten konnte er noch die Spring- und Dressur-Weltmeisterschaften besuchen. Mit einer hohen Lebensqualität. Bis er wieder zu uns kommen musste und hier nach wenigen Tagen starb.

Sprechen Sie sich wegen diesen guten Erfahrungen eher gegen die Suizidhilfe aus?

Kunz:
Nicht grundsätzlich. Wir haben dasselbe Ziel, nämlich Menschen mit schwerem Leiden zu helfen. Deshalb sollten sich beide Seiten nicht bekämpfen. Ich bin überzeugt, dass wir unsere Patienten so gut wie möglich beraten und ihnen zeigen sollten, was Palliative Care zu bieten hat. Was man bei der Suizidhilfe beobachten kann, ist eine Entwicklung in den letzten Jahren, weg von Schwerkranken hin zum Bilanzsuizid.

Liegt dies am alten Menschen von heute?

Kunz:
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich verändert. Menschen erwarten mehr Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter. Dabei entstehen zwei Gruppen: Die Gewinner und die Verlierer.

Was meinen Sie mit Verlierern?

Kunz:
Die Menschen haben immer mehr Mühe damit, wenn das Alter zu Einschränkungen führt. Kommt es dann wegen chronischer Krankheiten zur Therapie, fühlen sich viele Patienten dieser ausgeliefert. Deshalb sollten sich Betroffene früh die Frage stellen: Welche Therapie will ich und welche nicht, wo setze ich persönliche Grenzen?

Wo liegen die Grenzen der Palliativmedizin?

Kunz:
Das Versorgungsangebot ist für viele Leute noch gar nicht verfügbar. Zudem ist die Finanzierung ungesichert. Im Gesundheitswesen schaut man sich bei uns noch zu wenig die Gesamtkosten an und geht deshalb davon aus, Palliativmedizin führe zu einer Verteuerung. Ein Versuchsprojekt in Spanien zeigt jedoch, dass dank einem Netz aus Palliative Care die Kosten massiv gesunken sind. Aufwändige Therapien und Notfallhospitalisationen liessen sich vermeiden. Ich denke, dass genau hier die Zukunft liegt: in einer besseren palliativen Versorgung schon zuhause.

JULIAN PERRENOUD
September 2013

Bild:
Dr. med. Roland Kunz ist Chefarzt der Universitären Klinik für Akutgeriatrie im Zürcher Stadtspital Waid. Als Präsident der Fachgesellschaft Palliative.ch (bis 2012) und als Mitglied der zentralen Ethikkommission der Schweizer Akademie der medizinischen Wissenschaften erarbeitete er medizinisch-ethische Richtlinien für Ärzte. www.palliative.ch