Haben wir Menschen eigentlich Angst vor dem Tod? Im Tod der anderen erkennen wir alle immer aufs Neue unsere eigene Endlichkeit; aber das ist es nicht, was uns so sehr ängstigt. Angst haben die meisten von uns vor einem qualvollen, lang andauernden Sterben, vor unerträglichen Schmerzen, vor der Vorstellung, als Pflegefall lange Zeit der Fürsorge anderer bedürftig oder im Spital einer hoch technisierten Medizin hilflos ausgeliefert zu sein. Trotz aufwendiger Palliativpflege, trotz intensiver Betreuung aus dem Familienkreis oder durch Pflegeorganisationen stellt sich in dieser letzten Lebensphase vielen Menschen die Frage, ob sie nicht den Tod rufen sollen.
Diese Grundsatzfrage beantworten müssen auch all jene, die für sich gar keine Palliativpflege in Anspruch nehmen wollen und selbstbestimmt zum für sie richtigen Zeitpunkt aus dem Leben scheiden möchten – Alzheimerkranke beispielsweise. Und sie stellt sich der kleinen, aber zunehmenden Zahl älterer Menschen, die nicht tödlich erkrankt sind, aber die Summe ihrer Beschwerden und Leiden abwägen gegen den geringen Rest an Lebensqualität, der ihnen noch verblieben ist: Sie entschliessen sich oft für einen Bilanzsuizid – auf eigene Initiative oder mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation.
Die Herausgeber Hans Wehrli, Bernhard Sutter und Peter Kaufmann haben Texte prominenter Autoren zusammengetragen, die die vielfältigen Aspekte der Thematik Selbstbestimmung am Lebensende ergründen und nicht zuletzt auch den vom Verlag gesetzten, für viele wohl auch provokant klingenden Titel «Der organisierte Tod» relativieren. Das Debattenbuch will der Leserin, dem Leser in zwölf Kapiteln jeweils die Möglichkeit geben, aus dem Zusammenspiel zweier verschiedener Meinungen zu einem sensiblen Thema eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Viele Schicksalsgeschichten sind zu lesen: Angehörige schildern beispielsweise das Ringen um Würde und das Ertragen des Leids angesichts eines geliebten Menschen, der im Sterben liegt.
Das Buch lässt zu Themen wie «Sterben und Glauben», «Darf das ein Arzt?», «Die Politik am (Lebens-) Ende» oder «Wie weit geht das Menschenrecht?» stets zwei Experten gegenteiliger ethischer oder politischer Standpunkte gegeneinander antreten. Schweizer Politiker äussern sich wie etwa der Zürcher Ständerat Felix Gutzwiller oder der Luzerner alt Nationalrat Pius Segmüller. Stellung zur Rolle des Arztes am Sterbebett nehmen der Kardiologe Philipp Weiss, Chefarzt Franco Cavalli sowie Frank U. Montgomery, der Präsident der Deutschen Bundesärztekammer.
Zu Wort kommen aber auch andere Persönlichkeiten wie der Berliner Arzt Michael de Ridder, der Hamburger Jurist Roger Kusch, der Zürcher Oberstaatsanwalt Andreas Brunner, der Philosoph Otfried Höffe oder Dignitas-Gründer Ludwig A. Minelli. In der Zweitauflage finden sich auch ein Beitrag der ehemaligen deutschen Bundesministerin Renate Künast sowie ein Vorwort des Theologen Prof. Hans Küng. Zudem erhielten zwei Schriftsteller eine Carte blanche: Alex Capus und Martin Walser haben kurze, jedoch prägnante Texte beigesteuert. palliacura-Präsident Peter Kaufmann verfasste als Mitherausgeber das Vorwort «Soll man den Tod rufen?», Stiftungsrat Werner Kriesi schildert ein besonders aufwühlendes Beispiel «Aus der Praxis der Freitodbegleitung».
Ein Glossar, das nicht alphabetisch, sondern logisch strukturiert ist, erläutert im Anhang einige der wichtigsten Begriffe. In einem umfangreichen Anhang werden zudem die Resultate einer Volksbefragung zum Thema Sterbehilfe, Informationen zum Sterbemittel NaP sowie die Vereinbarung zwischen dem Kanton Zürich und EXIT über die Freitodhilfe veröffentlicht. pk
Hans Wehrli, Bernhard Sutter, Peter Kaufmann,
Herausgeber:
«Der organisierte Tod. Sterbehilfe und Selbstbestimmung am Lebensende – Pro und Contra»,
Orell Füssli, Zürich 2012, ISBN 978-3-280-05454-3, CHF 24.90
Hans Küng, Theologe: Worte zum Geleit
Peter Kaufmann, Präsident palliacura: Soll man den Tod rufen?
ETHIK – Gebot oder Verbot?
Contra: Otfried Höffe, Philosoph: Ist Suizidhilfe moralisch verantwortbar?
Pro: Michael de Ridder, Arzt: Jenseits der Palliativmedizin?
POLITIK – Die Politik am (Lebens-)Ende
Contra: Pius Segmüller, Politiker: Es gibt auch Selbstbestimmung ohne Sterbehilfe
Pro (D): Renate Künast, Mitglied des Bundestags: Ausgangspunkt für eine Neurgeleung muss stets das Schutzgut Leben, die Selbstbestimmung und die Würde der Betroffenen sein
Pro: Felix Gutzwiller, Ständerat: Die Verantwortung des Staates bei der Sterbehilfe
JURISTEN – Das letzte Recht
Contra: Brigitte Tag, Rechtsprofessorin: Die Sterbehilfe unter der Lupe
Pro: Roger Kusch, Jurist: Das letzte Recht im Leben
ORGANISATIONEN – Der organisierte Tod
Contra: Andreas Brunner, Leitender Oberstaatsanwalt: Weiter im Zickzack –
der Diskurs muss fortgeführt werden
Pro: Hans Wehrli, ehem. Präsident EXIT: Wozu es Sterbehilfeorganisationen braucht
PRAXIS – Am Sterbebett
Contra: Interview mit Monika Renz, Palliativtherapeutin: Das Leiden muss enttabuisiert werden
Pro: Werner Kriesi, Pfarrer: Aus der Praxis der Freitodbegleitung
BETROFFENE – Vom Leiden
Contra: Gerhard Fischer, Politiker: Im Sterben getragen
Pro: Wolfgang Putz, Sterbehilfejurist: Der Tod als Mandat
ANGEHÖRIGE – Gehen lassen
Neutral: Valérie Boucsein-Keller, Psychologin: Was Angehörige erleben
Pro: Ueli Oswald, Journalist: Gehen lassen – dem Vater beistehen
MEDIZINER – Darf das ein Arzt?
Contra Schweiz: Philipp Weiss, Kardiologe: Hilfe beim Suizid – Dürfen Ärzte das?
Pro: Franco Cavalli, Chefarzt: Der Arzt und die Sterbehilfe
Contra Deutschland: Marlis Hübner und Frank Montgomery, Präsident deutsche Bundesärztekammer: Beistand für Sterbende
MENSCHENRECHT – Wie weit geht das Menschenrecht?
Contra: Hans Giger, em. Rechtsprofessor: Sterbehilfe im Fokus völkerrechtlicher Aspekte
Pro: Ludwig A Minelli, Rechtsanwalt und Gründer Dignitas: Freitodhilfe als
menschenrechtlicher Anspruch
KIRCHE – Sterben und Glauben
Contra: Christoph Casetti, Bischofsvikar Bistum Churt: Hilfe beim Sterben statt Hilfe zum Sterben. Euthanasie: Die Haltung der katholischen Kirche
Pro: Thomas Morus †, Staatsmann und Heiliger: «Utopia»
KLANDESTINITÄT – Aus der Illegalität
Neutral: Russel D. Ogden, Kriminologieprofessor: Ein Fall illegaler Sterbehilfe aus Kanada
Pro: Jacqueline Jencquel, Sterbehilfeaktivistin: Illegale Sterbehilfe in Frankreich und Deutschland
CARTE BLANCHE – Die Sicht der Schriftsteller
Alex Capus: Dr. Tod
Martin Walser: Wem gehören wir eigentlich?
Anhang
Christian Schwarzenegger, Rechtsprofessor, et al.: Volksbefragung in der Schweiz
Klaus P. Hotz, Jurist: Barbiturat – das Sterbemittel NaP
Vereinbarung mit dem Kanton Zürich über die Freitodhilfe
Glossar
Biografien